1. Mai-Umzug: Impressionen
Nach strahlendem Sechseläuten in Blütenpracht nun Wetter schlecht, eisiger Nieselregen. Petrus macht das ganz richtig. Ist der 1. Mai-Umzug doch Anlass derjenigen, die im Leben nicht auf Rosen gebettet sind und selten auf hohem Ross daherkommen. Aber dafür gewohnt sind, durchzuhalten und dranzubleiben auch unter miesen Verhältnissen. Also – Schirm auf und losmarschiert! Zur Teilnahme aufgefordert wurde ich übrigens von meiner Tochter, für die ich möglicherweise zu sehr zur linken Couch Potato verkommen war. Gut so!
Abmarsch Helvetiaplatz
Vieles bleibt sich ähnlich an diesen traditionsreichen 1. Mai-Umzügen. Einiges nehme ich einfach in Kauf: die linksradikale Folklore, die anfangs 20. Jahrhundert stehengeblieben zu sein scheint. Die gebetsmühlenartigen Kampfrufe. Doch der Umzug ist mir wichtig. Der internationale Tag der Arbeit verbindet uns mit andern Menschen und ihrer Geschichte. Mit unserer eigenen Geschichte. AHV, Mindestlöhne, humane Arbeitszeiten, Stimm- und Wahlrecht der Frauen, neues Eherecht – von selbst ging wenig. Andere vor mir haben gekämpft, haben auch mir ermöglicht, was für mich heute selbstverständlich ist. Und auch ich möchte nicht vorbeischauen an den Missständen unserer Zeit.
Kreis 4 Richtung Löwenplatz
Was dringt so ins Bewusstsein, wenn frau mit kalten Händen durch den Regen schreitet? Meine Schwiegermutter war noch ein richtiges Arbeiterkind. Vater Maurer aus Italien. Tief katholisch natürlich. Die unerwünschten Fremden der dreissiger Jahre. Sieben Personen in einer winzigen Genossenschaftswohnung. Immer mindestens eins der Kinder wurde vorübergehend im Tessin bei Verwandten fremdplatziert, weil nicht genug Geld da war. Die Aelteste wäre gern ins Gymnasium gegangen, unterstützt von Lehrperson und Nachbarin, die das Schuldgeld übernommen hätten. Den Ausschlag gab der Pfarrer: Nein, für ein Mädchen völlig überflüssig. Das war’s dann.
Limmatquai unter Zwinglis Grossmünster
Heute ist es in unserer Kirche ja nicht mehr geächtet, «links», in der SP zu sein – bis hin zu Mitgliedern des Kirchenrats. Auch weitere Kolleginnen und Kollegen laufen heute mit. Trotzdem hinken und hinkten die Amtskirchen immer etwas hinterher. Ich kenne Pfarrkollegen, die benutzen das Attribut «gewerkschaftlich» wie ein Schimpfwort. Warum eigentlich? Unsere Gewerkschaften haben viel für die Schweiz getan. Für Schweizerinnen und Schweizer in Tieflohnsegmenten. Hat die Kirche das auch? Ich denke an die Verdingkinder, mit denen ich mich mal beschäftigt habe. Wo war da die Kirche? Es sind immer einzelne von uns, die sich einsetzen, Herz und Gewissen folgen. Manche davon werden berühmt, und Kirche ist froh um sie. Nachher. Bonhoeffer, Barth, Ragaz. Sophie Scholl. Passen übrigens gut zum diesjähren Motto: «Was tun! Nie wieder Faschismus.» Als Jugendliche war mir klar, dass nur ganz brave, langweilige, überangepasste Menschen was mit Kirche zu tun hatten. Heute weiss ich, dass das nicht stimmt. Aber war mein Eindruck völlig falsch? Wo bleibt unsere gesamtkirchliche Stimme, wenn es um Gerechtigkeit geht, sozialen Fortschritt, auch politischen Einsatz für Benachteiligte?
Das Bellevue zum Schluss
öffnet sich nicht nur zum Sechseläutenplatz und Opernhaus. Auch links hinauf zum Unispital und geradeaus in Richtung Multkulti-Stadelhofen. Der 1. Mai ist ein internationaler Tag der Solidarität. Nicht nur um uns geht es. Folter in so vielen Ländern, auch Spanien. Menschen, die einfach verschwinden in den Gefängnissen. Tierversuche. Arbeitsbedingungen, die krankmachen. Eine Lohnschere, die auch in der Schweiz auseinanderklafft. Sans Papiers und ihre Kinder. Uns egal? Alles «gewerkschaftliches» Geschwätz? Bitte nicht! Ich wünsche mir eine Kirche, die mutig mitmarschiert. Als Kirche, nicht nur einzelne daraus. Auch nicht zwingend im sozialistischen 1. Mai-Umzug. Aber im geistigen Umzug für mehr Gerechtigkeit und gutes Leben für alle Menschen.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 10:32 Uhr, 02. MaiLiebe Barbara
Mein Herz schlägt auch links, solange ich denken kann. Und ab und zu singe ich gerne auch einmal wieder die Internationale (Deutscher Text von Emil Luckhardt, 1910):
Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
die stets man noch zum Hungern zwingt!
Das Recht wie Glut im Kraterherde
nun mit Macht zum Durchbruch dringt.
Reinen Tisch macht mit dem Bedränger!
Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger
Alles zu werden, strömt zuhauf!
|: Völker, hört die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
erkämpft das Menschenrecht. 😐
Es rettet uns kein höh’res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
Uns aus dem Elend zu erlösen
können wir nur selber tun!
Leeres Wort: des Armen Rechte,
Leeres Wort: des Reichen Pflicht!
Unmündig nennt man uns und Knechte,
duldet die Schmach nun länger nicht!
In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute,
wir sind die stärkste der Partei’n
Die Müßiggänger schiebt beiseite!
Diese Welt muss unser sein;
Unser Blut sei nicht mehr der Raben,
Nicht der mächt’gen Geier Fraß!
Erst wenn wir sie vertrieben haben
dann scheint die Sonn‘ ohn‘ Unterlass!
Barbara Oberholzer
Gepostet um 11:16 Uhr, 02. MaiLiebe Esther, danke für diesen Text! Über einzelne Formulierungen lässt sich diskutieren – 100 Jahre später und wohl schon damals. Was mich aber beeindruckt, ist der Drive der darin steckt. Behalten wir den bei ?!
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 11:36 Uhr, 03. MaiJa klar lässt sich über den Text diskutieren; -er hat ja auch schon 107 Jahre auf dem Buckel!
Zum Spannungsfeld Kirche(n) und Arbeiterschaft ein Gedicht von Kurt Marti mit dem programatischen Titel „Absenz“:
„Die Kirche ist auch für die Arbeiter da“, sagte der Pfarrer.
Niemand hatte etwas dagegen.
Nur war in der Kirche wie meistens
kein Arbeiter da,
Ziemlich treffend nicht!?
Barbara Oberholzer
Gepostet um 12:09 Uhr, 03. MaiKurt Marti zum zweiten ?:
Der Himmel, der kommt
Das ist der kommende Herr
Wenn die Herren der Erde gegangen
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 13:29 Uhr, 03. MaiSuper; -danke dir!
Mike Chudacoff
Gepostet um 15:45 Uhr, 03. MaiLiebe Barbara,
vielen Dank für Deinen ermutigenden Beitrag. „Links“ kann auch Alternative Liste heissen, bei der ich bekanntlich Mitglied bin. Mein „Coming Out“ in der AL als Mitglied der BKP hat einige in „meiner“ Partei befremdet – Kirche, uhhh, bitte nicht. Das hat sich inzwischen gelegt. Auch Organisationen sind lernfähig, höre ich…?
Barbara Oberholzer
Gepostet um 16:13 Uhr, 03. MaiLieber Mike, so höre und erlebe ich zum Glück auch! Lassen wir uns nicht entmutigen ?.