Bedürfnisse von Menschen: Was hat das mit dir und mir zu tun?

Verliert die Kirche ihr Profil, wenn sie sich auf Bedürfnisse von Menschen ausrichtet? Diese Frage steckt hinter vielen kritischen Einwänden gegenüber Veränderungen in der Kirche. Es mag sein, dass nicht alle Versuche, Brücken zu Menschen zu bauen, gelingen. Manchmal gleiten sie ab und werden zu flach und harmlos. Dann verliert das Evangelium an Schärfe und an lebensverändernder Kraft.

Dennoch: Eine Kirche, die sich nicht an den Bedürfnissen von Menschen orientiert, verliert ihre Identität. Die Erzählung eines Hochzeitsfestes, die im Neuen Testament zu finden ist, macht das deutlich (Johannes 2). Im Dorf Kana ist ein Fest im Gang. Die Menschen haben das Bedürfnis miteinander das Leben zu feiern. Nun ist aber kein Wein mehr da. Wasser hätte es noch genügend. Die Mutter von Jesus, Maria, stellt das fest. Sie nimmt die Situation wahr. Sie sieht und hört das Bedürfnis der Menschen.

In der christlichen Tradition wurde Maria auch als Symbol für die Kirche verstanden. Machen wir den Test: Die Menschen zu Beginn des 3. Jahrtausends haben Bedürfnisse. Sie wollen das Leben in vollen Zügen geniessen, es miteinander leben, sie wollen lieben, lachen und feiern. Manchmal fehlt da etwas. Nichts, was unbedingt notwendig wäre. Das Leben liesse sich auch so leben. Aber die Menschen haben Bedürfnisse. Die Kirche stellt das fest. Sie nimmt die Situation wahr. Sie sieht und hört das Bedürfnis der Menschen. Korrekt?

Maria macht Jesus auf das Bedürfnis nach Wein aufmerksam. Jesus antwortet mit einem irritierenden Satz: „Was hat das mit dir und mir zu tun?“

Dieser Satz trifft ins Herz der kirchlichen Identität: Was haben die Bedürfnisse der Menschen mit dir und mir zu tun? In welcher Weise haben die anderen Menschen etwas mit meiner Beziehung zu Gott zu tun? Jesus scheint seine Kirche zu fragen: Wie lässt du dich berühren und bewegen von den Bedürfnissen der Menschen?

Die christliche Tradition beinhaltet diesen gleichzeitig faszinierenden und beunruhigenden Gedanken: Das, was einzelne Menschen umtreibt, geht alle an. Nur, wenn ich mich berühren lasse von meinem Nächsten, kann ich wirklich glauben. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ist nicht einfach eine Metapher, sondern eine Aufforderung, den anderen mit seinen unerfüllten Sehnsüchten ganz ernst zu nehmen und mich von ihm verändern zu lassen. Und das beginnt schon bei scheinbar oberflächlichen Bedürfnissen, die Hochzeit des Lebens mit Wein statt mit Wasser zu feiern. Nicht zu reden von Menschen, die unter massiver sozialer Ungerechtigkeit leiden und die hungern und dürsten nach Befreiung aus Armut und Demütigung.

Diese Frage ist herausfordernd, gerade in Reformprozessen der Kirche: Können wir die Situation, in denen Menschen ausserhalb der Kirche stehen, wahrnehmen? Reicht unsere Imagination für eine künftige Kirche soweit, dass wir uns bewegen lassen von den Bedürfnissen der 99%, die selten oder nie am Sonntagmorgen anzutreffen sind? Verstehen wir, wie wir kreative Kooperationen mit anderen Akteuren in der Gesellschaft aufbauen können, um mitzuhelfen, die Situation von Menschen zu verbessern?

Und dabei geht es nicht darum, dass wir Menschen wahrnehmen – aber sonst überflüssig für unser Wohlbefinden und unseren Glauben halten. Es nützt nichts, die Lebenswelten-Studie der Zürcher Kirche zu kennen und im Bücherregal zu wissen. Eine binnenkirchliche Diskussion, die sich nur um das Bestehende dreht, führt nicht weiter. Statt darüber zu debattieren, wie wir uns selber noch etwas gemütlicher einrichten können oder wie wir uns noch etwas besser gegen jede Veränderung wehren können, sollten wir uns besser auf die Strassen unserer Dörfer und Quartiere begeben, um die Menschen, die dort leben, kennen zu lernen. Ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, ist der erste Schritt.

Der zweite Schritt wird in der galiläischen Hochzeits-Geschichte von Maria organisiert: Tut, was Jesus anordnet! Aus Wasser wird Wein. Die Menschen lieben, lachen und feiern das Leben. Damit – heisst es – offenbarte Jesus sein Herrlichkeit und seine Jünger und Jüngerinnen begannen, an ihn zu glauben. Bedürfnisse der Menschen wahrzunehmen, ist keine harmlose Sache!

Ein Zitat von Martin Luther King, das ich mir vor ein paar Jahren heraus geschrieben habe, erinnert mich daran:
„Das Leben ist wirklich miteinander verschränkt. Alle Menschen sind in einem unentrinnbaren Netz von Gegenseitgkeiten eingebunden, eingewoben in ein einziges Gewebe des Schicksals. Was immer einen direkt betrifft, betrifft alle indirekt. Ich kann nie das sein, was ich sein soll, bis du das bist, was du sein sollst. Und du kannst nie das sein, was du sein sollst, bis ich das bin, was ich sein soll. Das ist die aufeinander bezogene Struktur der Realität.“ (Martin Luther King Jr., Brief aus dem Gefängnis in Birmingham, Übersetzung durch den Blog-Autor)

Hier die Geschichte im Wortlaut: Johannesevangelium, Kapitel 2:

21 Und am dritten Tag war eine Hochzeit in Kana in Galiläa, und die Mutter Jesu war dort. 2 Aber auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit geladen. 3 Und als der Wein ausging, sagt die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. 4 Und Jesus sagt zu ihr: Was hat das mit dir und mir zu tun, Frau? Meine Stunde ist noch nicht da. 5 Seine Mutter sagt zu den Dienern: Was immer er euch sagt, das tut. 6 Es standen dort aber sechs steinerne Wasserkrüge, wie es die Reinigungsvorschriften der Juden verlangen, die fassten je zwei bis drei Mass. 7 Jesus sagt zu ihnen: Füllt die Krüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis oben. 8 Und er sagt zu ihnen: Schöpft jetzt und bringt dem Speisemeister davon. Und sie brachten es. 9 Als aber der Speisemeister das Wasser kostete, das zu Wein geworden war, und nicht wusste, woher es war – die Diener aber, die das Wasser geschöpft hatten, wussten es -, da ruft der Speisemeister den Bräutigam 10 und sagt zu ihm: Jedermann setzt zuerst den guten Wein vor, und wenn sie betrunken sind, den schlechteren. Du hast den guten Wein bis jetzt zurückbehalten.
11 Das tat Jesus als Anfang der Zeichen in Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn. 12 Danach zog er nach Kafarnaum hinab, er und seine Mutter und seine Brüder und seine Jünger. Und sie blieben dort einige Tage.

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2 Kommentare
  • Angela Wäffler
    Gepostet um 11:12 Uhr, 17. Oktober

    Lieber Thomas
    Das „bei den Menschen sein“ ist eine wichtige Sache – und du verbindest sie mit einer biblischen Erzählung vom Feiern und Festen.
    Zwei Gedanken gehen mir dabei durch den Kopf:
    (1) wer nachts durch Zürichs Strassen geht, sieht viele feiernde Menschen, denen es nicht am „guten Wein“ fehlt. Würde Jesus ihnen noch mehr Wein einschenken? Oder fragen, was sie ausser Wein brauchen? Oder ihnen einen Vorschlag machen? Ich meine diese Frage nicht in einer plumpen „leben wie Jesus“-Weise, sondern sehr nachdenklich…
    (2) Könnte es sein, dass der Vers 2 „Aber auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit geladen“ mehr ist, als eine Einleitung in den Plot der Erzählung und uns inhaltlich etwas Wichtiges mitteilt? Zum Beispiel, dass Jesus am Fest beteiligt ist, dass er als Teil der feiernden Festgemeinschaft wahrgenommen wird? Er wurde wohl nicht eingeladen, damit er das Fest verschönert, sondern weil er selbstverständlich dazugehört. Und nicht er allein, sondern der Kreis der ihm Nahestehenden ebenso. Mit ihm zu rechnen, nicht nur als Wein-Spender, gehört doch auch dazu…

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    • Thomas Schaufelberger
      Gepostet um 14:43 Uhr, 17. Oktober

      Liebe Angela
      Danke für deine weiter führenden Ergänzungen. Ich verstehe die Erzählung der Hochzeit zu Kana metaphorisch. Jesus würde alkoholisierten Jugendlichen nicht noch mehr Wein „hinzaubern“. Ganz sicher nicht. Aber die Jugendlichen haben Sehnsüchte und Bedürfnisse. Die Geschichte fragt, welche Bedürfnisse Jugendliche in den Nächten auf Zürichs Strasse haben und was diese Bedürfnisse uns angehen. Gehen sie uns etwas an? Oder sind wir zufrieden, wenn sie auf Zürichs Strassen sind und nicht in unseren Häusern? Können wir glauben ohne sie?
      Jesus ist selber Teil der Hochzeitsfeier. Auch diese Beobachtung vertieft meine Blog-Gedanken. Allerdings: Die Erkenntnis, wer Jesus ist, beginnt erst am Ende der Geschichte. „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“, sagt er. Und sie kommt doch gerade in dieser Geschichte. Im Englischen gibt es diese einprägsamen Wortspiele: „belonging before believing“ – das ist für viele Menschen heute ein möglicher Weg zum Glauben. Sie müssen zuerst irgendwo eine Beziehung, eine Gemeinschaft, ein Fest erleben, bevor sie glauben können. Bei der Hochzeitsfeier passiert in Kana genau das: Indem die Jesus Nahestehenden seinen Anordnungen, die Bedürfnisse der Hochzeitsgesellschaft wahrzunehmen, folge leisten, entsteht Glaube. Er ist zu Beginn der Geschichte noch nicht da.

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