Auf das Leben!
Neulich war ich in der Fortbildung, Palliative Care für Seelsorgende. Wir sollten alle bis Ende Jahr einen entsprechenden Kurs besucht haben. Grundsätzlich eine gute Sache. Doch da erlebte ich einen Augenblick echter Krise. Die Kurstage waren spannend, die Gruppe motiviert, auch ich. Daran lag es nicht. Doch in der Pause stand ich vor dem Büchertisch. Und plötzlich schien sich ein Abgrund vor mir aufzutun. Was hatte das alles noch mit mir zu tun? Diese Masse an Sterbe- und Trauerliteratur – dringend benötigt oder florierendes Geschäft? Wer brauchte das eigentlich? Spiritual Care ausschliesslich im Endstadium? Würde ich sofort darauf reduziert werden, wenn ich sagte: Ich bin Spitalseelsorgerin? Mit dieser Engführung der Seelsorge, des Lebens? Mir wurde schwindlig. Es war tief bedrückend, glauben Sie mir. Doch Krisen können heilsam sein, das sollte ich als Seelsorgerin wissen. Und bald darauf regten sich in mir erste zaghafte Keime der Rebellion.
Wo blieb hier der ganz junge Mann mit einer chronischen Darmerkrankung, den ich kürzlich besuchte? Seine Angst, die Lehrstelle zu verlieren? Nie ein Mädchen zu finden? Wo blieb die ältere Frau, die hauptsächlich gesund und nur wegen eines Routineeingriffs im Spital war, die aber vor kurzem den Mann verloren hatte? Wo die Migrantin, die häuslicher Gewalt ausgesetzt war? Ich könnte die Liste beliebig weiterführen. Und auch schöne Erlebnisse gehören zur Seelsorge, gute Nachrichten, erfolgreiche Therapien. Auch da besteht bei Menschen der Bedarf zu reden, über Leben und Glauben nachzudenken, zu danken. Die Fülle des Lebens – im Spital genauso präsent wie ausserhalb.
Auf Palliativstationen existieren für unser Gesundheitswesen fast luxuriöse Verhältnisse. Klein, aber fein. Hochmotiviertes Personal, grosszügiger Personalschlüssel, Sinn fürs Ambiente, Freiwillige, verschiedenste nicht-medizinische Therapieangebote. Natürlich auch Seelsorge, das ist klar. Vieles aber ist bereits durch andere Dienste abgedeckt. Ganz anders kann dies aussehen auf weniger privilegierten Stationen: DRG (diagnosebezogene Fallgruppen), abgehetztes Personal, keine Freiwilligen, niemand, der Harfe spielt oder auch nur Zeit hat. Wäre unsere Präsenz nicht gerade da besonders sinnvoll? Gestorben wird auf ihnen übrigens auch. Warum scheint Seelsorge ausgerechnet in der bereits sehr gut bespielten Palliative Care so speziell wichtig? Echtes Bedürfnis oder „Schaut her, auch wir sind dabei?“? Wahrscheinlich von beidem etwas, wie so häufig im Leben. Doch es sei mir gegönnt, diese seelsorgliche Positionierung auch zu reflektieren.
Es gibt auch ein Leben vor dem Tod. Farbig und vielfältig. Vielleicht mögen wenigstens die bunten Cover auf dem Tisch davon etwas auszudrücken. «Wenn wir sterben, sterben wir – doch zuerst werden wir LEBEN!» – eines meiner Lieblingszitate aus Game of Thrones, falls das jemand kennt. Es gibt eine Spiritualität vor dem Tod – Glaube, Hoffnung, Liebe! Das Sterben macht bei den meisten Menschen nur einen kurzen Teil ihrer Lebensdauer aus. In der Lebenszeit vorher aber – da liegt das Potential. Für sie und für uns. Da ist Zuhören gefragt, Anteilnahme, Ermutigung, Humor. Wir sind für Lebende da, wenn sie sterbend werden – aber auch vorher! Für Lebendige im Namen des Lebendigen. Auch innerhalb der spezialisierten Spitalseelsorge bin ich Allrounderin und möchte es bleiben. Gerade dieses «Leben vor dem Tod» kann auch den Sterbeprozess massgeblich mitprägen. Oder wie schreibt die australische Pflegefachfrau und Sterbebegleiterin Bronnie Ware in «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen»:
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.
- Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.
- Ich wünschte, ich wäre mit meinen Freunden in Kontakt geblieben.
- Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.
(Bronnie Ware, 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen, Goldmann (Arkana) Verlag München 2013)
Anita Ochsner
Gepostet um 10:34 Uhr, 20. FebruarIch finde das einen ganz wichtigen Beitrag, denn mir scheint, in vielen Leuten ist im Kopf, dass Seelsoger_innen (Pfarrerin/ Pfarrer) erst dann auftauchen, wenn sie sterben. ( ?! )bzw. , wenn diese auftauchen, heisst soviel, dass ich wohl sterben werde?!
Oder anders, wie es kürzlich meine Mutter im Spital ausdrückte: „…die kommen immer…“ Nach dem sich die Seelsorgerin vorgestellt hatte und den Flyer hinterliess. Die Worte meiner Mutter klangen für mich so, als ob sie von „einem Hausierer“ spricht, „die kommen immer um ihre Ware an zu preisen“. Nun wir konnten darüber reden…
Da gibt es eben auch viele Prägungen, wie Glauben Religion vermittelt wurde… mit wohl ziemlich nachhaltiger Wirkung.. ?
In Ausschreibungen was Seelsorgende anbieten im Spital, scheint mir, dass zuwenig zum Ausdruck kommt, dass es eben um das LEBEN geht. Die Fragen die die Leute haben, schon „richtig“ sind! die 5 Dinge..
Ich wünsche mir, dass Seelsorgende ihre Arbeit vorstellen.
Ich wünsche mir, eine Veranstaltung (Vortrag, Diskussions/fragerunde) darüber.
Ich wünsche mir, diese in unserer Institution.
Ich wünsche mir, dass diese Veranstaltung öffentlich ist. ( Leute von aussen dazu stossen! 🙂 )
Ich wüsche mir, sie soll mit der Musiktherapeutin zusammen durchgeführt werden.
Danke für diesen wichtigen Beitrag! Sonnige Tage allen ;- )
Barbara Oberholzer
Gepostet um 10:55 Uhr, 20. FebruarLiebe Frau Thalmann, ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihren Kommentar. Es ist noch einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten, das da bin ich ganz einig. ☀️
Barbara Oberholzer
Gepostet um 11:50 Uhr, 20. FebruarLiebe Frau Ochsner natürlich, bitte entschuldigen Sie ? Ist mir was durcheinander geraten.
Anita Ochsner
Gepostet um 13:17 Uhr, 20. Februar;- ) passiert halt mal… so in allen Dingen zmitzt im Läbe.. Danke Eineweg! :- ) herzlich Anita Ochsner
Brigitte Hauser
Gepostet um 14:18 Uhr, 20. FebruarDas erlebe ich auch. Bei als PMK (palliativmedizimische Komplexbehandlung) „gelabelten“ PatientInnen tummelt sich Musiktherapie, Psychologie, Seelsorge, Ernährunggsberatung, Physio etceterapepe. Für andere PatientInnen bleibt mir als Spitalpfarrerin auf einmal weniger Zeit, Denn da sind auch noch die PMK Besprechungen.
Anonymous
Gepostet um 16:28 Uhr, 22. FebruarAls Rabelais im Sterben lag und die letzte Ölung bekam, hörte man ihn murmeln:
„I must be going on a long journey. They are greasing my boots.“
Brigitte Hauser
Gepostet um 12:25 Uhr, 24. FebruarDanke Anonymous. Wunderbare Geschichte. Hab sie mir notiert.
Barbara Oberholzer
Gepostet um 09:19 Uhr, 25. FebruarGenau ?! Ein Schuss Humor und Selbstironie könnte in dieser ganzen Spiritual Care in Palliative Care vllt die Relationen auch wieder etwas herstellen … ?. Bis jetzt liefern dies vor allem die PatientInnen selbst.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 19:04 Uhr, 27. FebruarIst es nicht so, dass bei dieser Palliative Care, so wichtig sie sicher ist für die einzelnen PatientInnen, sich zuviele Berufsgruppen tummeln: Psychologinnen, Onkologiepfleger, Pfarrerinnen, Musiktherapeuten? Sollte Seelsorge nicht dort v.a. passieren, wo kein Anderer / keinen Andere sonst da ist und Zeit hat zuzuhören?