Aber die Realität ist leiser
Ein Versieglungsprotokoll?! Typisch. Da stirbt einer allein in seiner heruntergekommenen Wohnung und unsere Verwaltung meldet sich mit bürokratischen Ansprüchen. „Versiegelungsprotokoll“. Vor meinem inneren Auge sehe ich eine Klebetikette zwischen Tür und Türrahmen, wie im Tatort. Ich behalte beides für mich. Meiner Frau, die vor vier Tagen ihren Vater verloren hat, kann ich das nicht sagen.
Nicht sauber
Seit vier Jahren hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihm. Handynummer gewechselt, keine Reaktion auf Karten, auf Facebook gesperrt. Und dann kommt die Polizei. Zu zweit. Und man denkt: Ah, Suizid. Ah, Suizid mit einer der Schusswaffen. Aber die Realität ist dann leiser und unspektakulärer. Kein Suizid. Raubbau am eigenen Körper, nachdem die eigene Seele sich in die immer unwohnlicheren eigenen vier Wände zurückgezogen hat.
Ein Polizist begleitet uns in die Wohnung. Er bereitet uns behutsam auf das vor, was wir nun zu sehen bekommen: Die Wohnung ist, wie er sagt, „nicht sauber“. Im Eingang türmen sich Kartons längst bestellter Waren, überall liegen Kleider, Essensreste, leere Whiskyflaschen, Rotwein-Tetrapacks und auf dem Spannteppich im Wohnzimmer ein zerschnittenes T-Shirt und Boxershorts. „Ja“, bestätigt der Polizist, „hier ist er gestorben, das waren seine letzten Kleider.“
Verpflichtet
Beschämung, hier eine Intimsphäre zu betreten, die mein Schwiegervater keinem öffnen wollte und Ekel mischen sich, als ich anfange die Speisereste zu entsorgen und zwischen Flaschen, Kartons, Fotos, Tellern nach den Dokumenten zu suchen, die wir im Nachbarsort in einer Stunde beim Bestatter abgeben müssen. Familienbüchlein? Fehlanzeige. Aber es geht dann auch ohne und dafür bin ich beinahe schon dankbar. Das „Trauergespräch“ beim Bestatter tröstet nicht, sondern regelt, was zu regeln ist. Meine Frau unterschreibt den Vertrag, der uns zur Zahlung einer Summe, die einem zweiwöchigen Familienurlaub entspricht, verpflichtet.
Und dann meldet sich die Gemeindeverwaltung. Man müsse ein Versiegelungsprotokoll in Anwesenheit der einzigen Nachkommin erstellen. „Toll. Aber sie kann nicht alleine komme. Und ich arbeite 100%. Ich kann nur am Samstag.“ „Gut, dann Samstag. Passt Ihnen 9 Uhr?“
Überfordert
Auf der Hinfahrt erkläre ich meiner Frau, die das jetzt gar nicht wissen will, sämtliche juristischen Optionen, die ich recherchiert habe. Dozieren gibt mir Sicherheit, besonders jetzt, wo ich mich vor der Wohnung und der damit verbundenen Bürokratie ekle und fürchte. Wir sind etwas früher da. Dieses Mal haben wir Gummihandschuhe mitgebracht. Aber noch ist an Aufräumen nicht zu denken. „Soll sie doch sehen, was es da zu versiegeln gilt!“, denke ich mir hilflos trotzig.
9 Uhr, sie klopft. Menschlich berührt kondoliert sie uns beiden. Ich komme mir falsch vor. Ich habe ihn ja gar nicht gekannt. Sie schon. In so einem Dorf kennen alle jeden. Sie räumt auf einer Truhe Platz frei, um ihre Dokumente auszubreiten und kniet sich davor auf den Boden. Meine Güte! Ich hatte jeden Kontakt mit dem Boden tunlichst vermieden. Sie ist gut informiert, hat schon mit einem Notar gesprochen. Sie nimmt das Protokoll auf. Ohne hochgezogene Augenbrauen. Ohne Urteil. Aber nicht kühl, nicht distanziert.
In Ordnung
Wir unterschreiben das Protokoll. Es ist jetzt erst viertel vor Zehn. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Ich habe Entsorgungsetiketten mitgebracht.“ Sie schnappt sich unter höflich-floskelhafter Widerrede meinerseits ein paar Handschuhe und beginnt Glas, Alu, PET zu trennen. Zeigt uns wo wir die mittlerweile fürchterlich stinkenden Müllsäcke mit den Speiseresten loswerden, hilft sogar, diese Säcke runterzutragen. Sie hat gesehen, dass wir mit einem kleinen Mobility-Auto angekommen sind. „Damit fahren Sie mehrmals. Wir nehmen meins.“ Wir laden Ihr Auto voll mit Glas, PET, Alu, fahren zu zweit zur Entsorgungsstelle, wo wir alles einwerfen: Vier 110l-Säcke Glas, zwei 110l-Säcke Alu und reichlich PET.
Es ist kurz vor Zwölf als sie sich verabschiedet. In diesen drei Stunden hat sie weit mehr geordnet, als das Protokoll vorgibt. Essensreste, PET, Alu, Glas und nebenbei meine Vorurteile gegenüber Verwaltungsbürokratie. Sie hat nicht nur ihren Job gemacht, sondern einen sehr schwierigen Moment begleitet und uns spüren lassen, dass wir miteinander nicht alleine sind. So empfindlich ich angesichts des Verlusts und der Trauer gegenüber bürokratischen Ansprüchen war, so empfänglich war ich aber auch für diesen „Engel“, der mir – ohne zu sprechen – gesagt hat: Fürchte dich nicht. Schämt euch nicht. Wir schaffen das.
michael vogt
Gepostet um 06:55 Uhr, 23. Märzwas Sie beschreiben, gehört auch dazu – aber ich glaube, wenn man stirbt, erfährt man etwas schönes
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 08:10 Uhr, 23. MärzWas die Angehörigen aber da gerade erlebt haben und Herr Jütte eondrücklich beschreibt, ist jedoch gar nicht schön, werter Herr Vogt!
Yvonne Wildbolz
Gepostet um 09:15 Uhr, 23. MärzEs kann im doppelten Sinn schön = erlösend sein.
Der Verstorbene in all seiner Hilflosigkeit und Überforderung kann die Erfahrung der Erfüllung der Osterhoffnung machen.
Die Angehörigen in all dem Schrecklichen drin, erfahren Mitgefühl und Unterstützung von unerwarteter Seite. Ein Glücksfall von Solidarität und Menschlichkeit, der die Erinnerung mitprägen wird.
Rudolf Priapus
Gepostet um 20:04 Uhr, 24. MärzWas für ein Blödsinn, der Verstorbene in seiner Situation ist ganz sicher nicht überfordert und noch viel weniger hilflos. er ist ganz einfach ein Gefäss , leblos und dem Zerfall gewidmet.Der Tod ist schon gar nichts Schreckliches, was an ihm schrecklich sein soll, wurde den Menschen zur Disziplinierung von den Pfaffen und anderem Otterngezücht eingebläut. Die Güte die aus den Handlungen der Gemeindemitarbeiterin spricht, kommt aus dem innersten dieser Person, sie hat sich die kindliche Liebe zum Mitmenschen trotz der Bemühung von Geistlichen und anderen Autoritäten erhalten können.
Verena Thalmann
Gepostet um 13:21 Uhr, 25. MärzDen letzten Satz Ihres Kommentar, Herr Priapus könnte ich auch „unterschreiben“.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 10:27 Uhr, 23. MärzHabe vor ein paar Tagen einen Frau beerdigt, welche gemeinsam mit ihrem Lebenspartner in ihrer Wohnung aufgefunden worden ist. Das Ganze ist für die Angehörigen eine ziemlich belastende Situation: Bei einer sogenannten „Auffindung“ kommt die ganze polizeiliche und richterliche Mühle zum Laufen inkl. Einbehaltung der Leichen zweckt Obduktion in der Gerichtsmedizin. Zum Glück wurde in diesem Fall bei Beiden eine natürliche Todesursache festgestellt, was für die Angehörigen schlussendlich zu einer Entspannung gehührt hat.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 10:31 Uhr, 23. MärzFür mich eine schöne Geschichte, die zeigt, dass auch Amtspersonen einfach Menschen sind; mit Schwäche und in diesem Fall der Stärke, dabei zu bleiben, hinzuschauen und tatkräftig anzupacken. Chapeau!
Barbara Oberholzer
Gepostet um 10:47 Uhr, 23. MärzAus der Notfallseelsorge früher kenne ich solche Situationen auch. Extrem beelendend. Für alle Beteiligten. Das sind Bilder, die man nur schwer wieder los wird. Einfühlsam-sachliche Behördenmitglieder übernehmen hier eine echt seelsorgliche Funktion,
Verena Thalmann
Gepostet um 10:42 Uhr, 24. MärzTief berührt und eigentlich etwas sprachlos, fühle ich mich, nach dem lesen dieses offenen Berichtes – mitten aus dem Leben, das manchmal auch grausam ist.
Danke für die Offenheit, das Anteilnehmen dürfen und für das trotz allem Mut machen. Es gibt sie noch – Menschen, die menschlich sind und uns nicht im Stich lassen!
Rudolf Priapus
Gepostet um 19:57 Uhr, 24. MärzDeshalb ist es sinnvoll, zumindest den Angehörigen Kosten zu ersparen, indem man am besten bei EXIT hinterlässt wie man die Entsorgung des eigenen Kadavers erledigt haben möchte.. Bei mir steht in der Patientenverfügung, dass man den Leichnam abholen möge zur beliebigen Verwendung, idealerweise zugunsten der Studenten des anatomischen Instituts der nächstgelegenen Medizinstudenten ausbildender Universität, mangels dessen, die Überreste in einen innert einer Wegstunde vom Sterbeort gelegenen Friedhof bringen und dort per Erdbestattung dem Zerfall anheim geben möge. Die Anwesenheit von Geistlichen aller Art am Spital und Sterbebett habe ich untersagt, ebenso wie deren Anwesenheit bei der Bestattung. Ich behalte mir vor, eventuell noch vorhandene Gelder von einem Vertrauten auf dem Friedhof in einem geeigneten Gefäss verbrennen zu lassen oder damit eine Suppe zugunsten von Obdachlosen kochen zu lassen. Meine Angehörigen bitte ich sich damit zu trösten, dass ich das Leben als unendlich und den Tod als grosse Illusion und Gott letztlich als nicht beweis – oder widerlegbar und somit als nicht existent betrachte. Warum ich hier in einem reformierten Forum schreibe, ganz einfach weil mich damals vor mehr als 60 Jahren in den Religions – und Konfirmandenunterricht gezwungen hat, mich, da ich in keinem Augenblick nur auch ein Wort geglaubt habe zum chronischen Heuchler und Lügner erzogen und unzählige Lebensstunden gestohlen hat, immer wenn ich Fragen stellte ausweichend geantwortet oder gar mit Strafen reagiert hat. Ich untersage Ihnen jede Korrespondenz auf diesen Kommentar hin ausser über meine Mailadresse.