Caffè sospeso – Eine Tasse Solidarität
«Für DICH isch bereits bezahlt worde» – Die 23jährige Ramona staunt nicht schlecht, als sie im Starbucks in St. Gallen statt einer Quittung für ihren Kaffee einen Zettel mit dieser Botschaft erhält. Sie berichtet in der Schweizer Pendlerzeitung «20 Minuten», ist noch Tage danach gerührt und gibt sogar zu Protokoll, dass die Aktion «den Glauben an die Menschheit wieder aufleben» lässt.[1]
Menschlichkeit
Dieser Gedanke hat mich aufhorchen lassen. Eines vorweg: Es war kein Annäherungsversuch eines Verehrers, sondern offenbar ein Herr, der den Gästen unbekannterweise eine Freude bereiten wollte. Warum erstaunt das so, wenn jemand Gutes tut – einfach so? Warum rührt das gleich an den Glauben an die Menschheit? Die Momente, in welchen wir Fremden Türen aufhalten, Sitzplätze freigeben, Vortritte gewähren sowie andere Gefälligkeiten und Gesten sind rar geworden und erfolgen – sind wir ehrlich – doch sehr bewusst gewählt und immer weniger aus einer Grundhaltung. Selbst Schenken ist eine eher ritualisierte Angelegenheit und schielt nicht selten bewusste oder unbewusst auf einen Return to Investment. Entsprechend reagiert man doch eher verlegen und bisweilen misstrauisch, wenn man überrascht wird. – Erstaunlich, was so ein Kaffee auslöst. Irgendwie erinnert er doch daran, dass wir nicht so ungestört in unseren Kokons vor uns herleben wollen – das ist menschlich.
Zurück zum Anfang: «Für DICH isch bereits bezahlt worde» – Das Konzept im Zusammenhang mit Kaffee ist nicht neu; ich kenne es aus Süditalien. Schon einmal etwas vom «Caffè sospeso» gehört? Den «schwebenden» oder aufgeschobenen Kaffee gibt es in Napoli schon sehr lange. Das geht ganz einfach: Wer einen Kaffee trinkt, kann seinen geniessen – geht in Italien oft sehr schnell und stehend – und einen zweiten bezahlen, nicht für sich – sondern eben sospeso (oder auch in sospeso). Aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Der Barista notiert sich die Spende und schenkt Bedürftigen, die nachfragen, den bereits bezahlten Kaffee aus. Voilà, so kann Solidarität eben auch gehen, indem man gerade in einem Moment des Genusses oder der Auszeit auch an den/die Nächsten denkt.
Eine Idee macht Schule
Kaffee trinkt man in der Regel nicht, weil man gerade Durst hat. Im Prinzip ist es ja ein kleiner Luxus. In Italien aber ist er Teil der Kultur – man gönnt hier also auch Partizipation. Was aber, wenn diese Geste des unbekannt Spendenden plötzlich für so alltägliche Dinge wie Brot auftaucht? Das ist in Matera der Fall. In der Basilicata ist der Brauch des sospeso nicht so stark verbreitet. Und doch wirkt die Idee auch hier: In Anlehnung daran hatte man in der Stadt des berühmt gewordenen Brotes vor einigen Jahren Bäckereien für die Aktion des pane sospeso während der Adventszeit gewinnen können.
In Süditalien kennt man seit je her das Gefühl, auf sich selbst gestellt zu sein, angesichts mangelhaft funktionierender (offizieller) Strukturen und notorisch knapper Ressourcen. Der «caffè sospeso» ist so Teil einer institutionalisierten Form der gesellschaftlichen Selbsthilfe. Die Praxis scheint nun auch in anderen Ländern seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 selbst nördlich der Alpen, Mode zu werden (und neu Englisch: suspended coffee). So verdanken wir den Italienern nicht nur guten Kaffee, sondern auch noch eine gute und wirksame – nicht zuletzt diskrete – Form der Solidarität.
Und da sind wir wieder beim Überraschungseffekt der eingangs geschilderten Geschichte: Wir Schweizerinnen und Schweizer sind ein diskretes Volk. Ich wage nicht zu fragen, wer es über sich bringt, nach einem aufgeschobenen Kaffee zu fragen; in der Regel kennt der italienische Barista seine besondere Kundschaft, die danach fragt. Aber umgekehrt ist es ja ein leichtes, Gutes mit dieser Geste zu tun – vielleicht noch leichter, wenn der Kaffee bei uns nicht so teuer wäre… Aber das ist eine andere Geschichte.
Gelegenheit macht Solidarität
Ich habe mich erkundigt und bin darauf gestossen, dass es auch in der Schweiz mittlerweile Gelegenheit zur Kaffeespende gibt. Das Strassenmagazin Surprise, das Ausgegrenzten neue Möglichkeiten eröffnen will, veröffentlicht unter dem Titel «Eine Tasse Solidarität» eine Liste mit Orten und Lokalen in der Schweiz, wo man nach dem gleichen Prinzip einen «Café Surprise» offerieren oder beziehen kann.[2] Für Zürich sind 2017 zwei Betriebe aufgeführt.
Auch die Kirche wirkt hier mit Kaffee und Tat: In der reformierten Kirchgemeinde Hirzenbach gibt es mit dem coffee&deeds einen weiteren Gastrobetrieb, der den «suspended coffee» im Angebot hat für Menschen, die sich das Getränk und die damit für die meisten so selbstverständlich gewordene Auszeit nicht leisten können. Zwingli hätte sicher seine Freude an diesem besonderen «Bohnenhafen» – wenn es denn kein Ablass, sondern ehrlich gemeinte Geste ist.
Eine weitere Idee gefällig? 2017 taucht in Matera das «giornale sospeso» auf. Diesmal sind es Zeitungen und Zeitschriften und die Adressaten Jugendliche. Mit dieser Aktion will die Initiative jungen Menschen Lektüre und damit Befähigung zur Teilhabe ermöglichen.[3]
In jedem Fall gilt: Solidarität muss man nicht an die grosse Glocke hängen. Es reicht, ab und zu einmal auch an andere zu denken.
[1] «20 Minuten», Ausgabe vom 26.3.2017, online
[2] «Surprise»-Magazin, Ausgabe 392/17, S. 31, online
[3] Matera, «giornale sospeso», online
michael vogt
Gepostet um 07:17 Uhr, 06. Aprilweil nun mal ein unerträglicher handel daraus geworden war, sollten wir den ablass nicht pauschal verwerfen. durch eine kaffespende und alle anderen formen der solidarität verbessert sich unser karma. und ich finde, es gibt zwei arten der solidarität: die eine mit einigen, die andere mit allen.
Brigitte Schäfer
Gepostet um 07:27 Uhr, 06. AprilIn Luzern ist das in der ökumenischen Zwitscherbar möglich. Diese lohnt sowieso einen Besuch, nicht nur für diejenigen, die das niederschwrllige Seelsorgeangebot suchen. http://Www.zwitscherbar.ch
Anonymous
Gepostet um 09:38 Uhr, 06. AprilDanke für den Hinweis, Brigitte!
Michael Mente
Gepostet um 09:39 Uhr, 06. AprilDanke für den Hinweis, Brigitte
michael vogt
Gepostet um 07:32 Uhr, 06. Aprildas nicht-elektronische twittern 🙂
Luise Spahn
Gepostet um 07:58 Uhr, 06. AprilHat mich sogleich dazu animiert, im ital.Restaurant Coopi das nächste Mal, wenn ich eine Halbpreis-Mittagspizza geniesse, eine Pizza sospesa zu „hinterlassen“.
Michael Mente
Gepostet um 09:53 Uhr, 06. AprilKann man das dort tatsächlich? Auch eine sehr schöne Idee – denn wie beim Kaffee gilt in Italien das „farsi una pizza“ mehr als nur Hunger- (bzw. Durst-)Stillen!
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 11:03 Uhr, 06. AprilSowas wie Abendmahl auf Italienisch?
Michael Mente
Gepostet um 11:41 Uhr, 06. AprilWarum nicht, dazu hatte ich schon öfters assoziative Gedanken an fröhlichen Tischrunden :-). Auf alle Fälle geht es um Kultur und Teilhabe, denke ich.
Anonymous
Gepostet um 08:52 Uhr, 06. AprilGehe nun sofort auf sospesa-Tour. Starte mal im Dolder.
Luca Zacchei
Gepostet um 09:19 Uhr, 06. AprilIm Dolder kann man neuerdings auch Bilder mitnehmen… 😉
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 11:04 Uhr, 06. AprilAufgepasst: Da kommt dann schnell die Zollverwaltung! 😉
Anita Ochsner
Gepostet um 18:19 Uhr, 06. AprilBei uns gibt’s das „Werkstatt Café“. Ein kleines Lokal für alle mit dem einen einzigen Holztisch an dem alle Gäste zusammen sitzen und viele Geschichten zusammen kommen und einander erzählt werden, Caffé sospeso… da hinterlassen… wie das ankommt?
Und selbst.. ? Auch einem selbst fallen doch immer wieder solche Caffé sospeso Geschichten, Begegnungen zu. Geschichten ohne Café, doch eben die kleinen „Geschenke“.
Diese Solidarität wie Sie sie hier beschreiben, wenn sie so aus der Gesellschaft – aus der Not – herauswächst zur Kultur gehört… bei uns?
Eine Freundin erzählt wie ihr kleines Nähatelier so stark zu einem Treffpunkt gratis Café, „Caffé sospeso“ wird, alleine aus der Nachbarschaft in diesem Viertel, verschiedenste Landsleute…, dass sie zum Nähen gar nicht mehr dazu käme. Sie fragte sich, wo wie weit sie Grenzen setzen soll / muss ? Und dann auch zu merken was hier fehlt.
Wenn ich nachdenke an unseren Tisch auf der Strasse denke, es fehlen Tische und Tee und Kaffee auf offener Strasse für Gemeinschaft Zuhören und Begegnungen freie Gastfreundschaft … Unsere Freundin: Ein Kaffee aufmachen.. das alte längst leerstehende Bäckereihaus nebenan kaufen…! Visionen… denen wir dann nachgehen.. „Luftblasen“.
Danke Herr Mente für den Beitrag und die „Beilagen“. Sie sind spannend. „Surprises-Stadtführer“ .. „Benachteiligten eine Stimme geben“, Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung eine Stimme geben
Wie wäre es denn mit zwüsched ine „Surprises-Blog-Beiträgen“ hier? Was für „Geschichten“ kämen.. ?! ?
Anita Ochsner
Gepostet um 18:28 Uhr, 06. AprilPS: Es gibt sie schon auch die freien Begegnungen auf der Strasse. Ganz tolle. Jeweils im Sommer „Begegnungen im Volksgarten“ Glarus ein Besuch wert! :- ) Eine Initiative von Nachbarn
Verena Thalmann
Gepostet um 09:54 Uhr, 07. AprilVielen Dank, Herr Mente ! Habe mich einfach gefreut, wieder einmal Worte und Taten zu lesen – für jedermann und jedefrau 🙂 Das ist ermutigend, dranzubleiben auch als „Nicht-Studierte“.