Zauberumhänge – nicht nur für die Ferienzeit
Ferienzeit ist auch besondere Familienzeit. Meine Familie hat eine intensive Harry-Potter-Woche in Angriff genommen. Das heisst, zum soundsovielten Mal werden alle Filme hintereinander geschaut. Nach anfänglichem Widerstand, den ich nur einige Jahre durchgehalten habe, schaue ich also jetzt mit Vergnügen und innerer Anteilnahme den verwickelten und ausgeklügelten Episoden zu. Meine Familie hat mich durch verblüffende Detailkenntnisse davon überzeugt, dass die Geschichte nicht so schlicht ist, wie ich zu Beginn in meiner literarischen Arroganz angenommen habe. Und ich bin immer wieder neu überrascht davon, wie viele religiöse Züge in die Konfrontation von Harry Potter, Hermine Granger, Ron Weasley und mit dem, dessen Name nicht genannt werden darf, eingewoben sind.
Dieses Mal haben es mir die „Heiligtümer des Todes“ besonders angetan. Ein Märchen wird erzählt. Es ist eine Geschichte aus dem Buch, das Hermine als Vermächtnis und Erbe des grossen Zauberers und Hogwarts-Leiters Dumbledore zugekommen ist. Drei Brüder zaubern eine Brücke, um nicht in einem Fluss umzukommen. Der Tod ist empört, dass er so herausgefordert ist, denn der Fluss war für ihn der Garant, dass die Menschen sterben müssen. Aber natürlich will der Tod sich diese Menschenkinder nicht entgehen lassen. Und so stellt er ihnen je einen Wunsch frei. Natürlich versuchen sie, einen Wunsch zu finden, mit dem sie den Tod besiegen können. Und wie es immer ist, zwei der drei Brüder sind blind für die Realitäten. Der Älteste wünscht sich einen Zauberstab, mit dem er unbesiegbar ist, und auf diese Weise hofft er, auch den Tod übertrumpfen zu können. Am Ende kommt er dadurch um, dass ein anderer ihn aus Neid auf diesen mächtigen Zauberstab tötet. Der mittlere der Brüder wünscht sich einen Stein, mit dem er Tote, so die Liebste, auferwecken kann. Die Auferweckte findet sich jedoch in der Welt der Lebenden nicht mehr zurecht und verlässt sie freiwillig. Das hält ihr Lebensgefährte nicht aus und nimmt sich selbst das Leben. So werden die beiden Brüder also auf eine unerwartete Weise doch vom Tod besiegt. Lediglich der Jüngste versteht das Geschenk des Todes so zu nutzen, dass es ihm dienen kann. Er hat sich einen Umhang gewünscht, der ihn unsichtbar machen kann, so dass der Tod nicht in der Lage ist, ihn zu finden. Erst als die Zeit dem Jüngsten gekommen zu sein scheint, schenkt er seinem eigenen Sohn wiederum den Umhang, so dass der Tod zu seinem Gefährten werden kann, aber das Kind des Jüngsten ist von nun an geschützt.
Die drei Jugendlichen Harry, Hermine und Ron sind, als Hermine diese Geschichte vorliest, in extremer Gefahr. Die Gefolgsleute von Voldemort sind ihnen dicht auf den Fersen. Der Tod ist ein drohendes Gespenst in jeder Lebenslage. Dumbledore, der der besondere Vertraute und Beschützer von Harry Potter war, ist ebenfalls tot. Und so scheinen die drei der Überwältigung durch das Böse schutzlos ausgeliefert zu sein. Einen Umhang, der sie unsichtbar macht, hat Harry Potter schon ganz früh bekommen. Es war etwas, das sein Vater James Potter Dumbledore zur Aufbewahrung gegeben hat, um es seinem Kind zu geben, wenn es sinnvoll ist. Jetzt kann ihnen dieses magische Ding allerdings nicht mehr helfen. Hermine, die ebenfalls eine grosse Zauberin zu werden verspricht, appariert in der drohenden Gefahr mit ihren beiden Freunden. Die drei können sich zum wiederholten Mal dem Bösen entziehen. Apparieren ist etwas, das alle in Hogwarts gelernt haben und das die drei tun dürfen, als sie 17 Jahre alt geworden sind.
Es gibt kein endgültiges Entkommen, aber es gibt die fürsorgliche Geste, die das, was uns selbst beschützt hat, an die eigenen Kinder weitergibt. Der Umhang, der unsichtbar macht, ist so ein Zeichen für diese Geste. Auch der Zauber des Apparierens ist gewissermassen die nächste Stufe für die erwachsen gewordenen Jugendlichen, etwas, das sie selbst initiieren und handhaben können. Die Autorin J. K. Rowling ist grossartig darin, die verschiedenen Stadien der Kindheit und Jugend in einfachen Darstellungen einer Zauberwelt sinnenfällig zu machen. Sie lässt Kinder und Jugendliche im Lesen und im Anschauen der Filme Gewissheit erfahren, dass sie beschützt sind, wenn auch nicht unverletzlich.
Wir können uns, zeitlich befristet, vor dem Bösen schützen. Und wir können den Schutz, den wir selbst erleben, an unsere Kinder weitergeben. Das ist kein Weg in die Unsterblichkeit. Aber es ist das, was wir sozusagen in der Hand haben. Das Gegenstück in der Geschichte ist Draco Malfoy, der schon ganz früh von seinem Vater unter dem Einfluss Voldemorts gezwungen wird, sich für das Böse zu öffnen. Es ist nicht egal, welche Schutzmäntel wir uns und unseren Kindern umlegen. In der Harry-Potter-Geschichte gibt es viele Erwachsene, die bereit sind, Kindern einen Schutzmantel anzulegen und mit ihren Fähigkeiten dafür einzustehen, dass Kinder diesen Schutzmantel anlegen können. Es gibt Kinder ohne diesen Schutzmantel – solche, wie Draco Malfoy, und solche mit Schutzmantel wie Harry, Hermine und Ron. Segen, so las ich kürzlich, heisst, offen zu sein für das Gute.
Der Schutzmantel hat auch im Christentum eine lange Tradition. Von den Fruchtbarkeitsgöttinnen der Antike geerbt, trägt Maria den Sternen- und Schutzmantel, unter dem sie die sie Anflehenden bergen kann. In der reformierten Tradition ist diese sinnliche Komponente abstrakter geworden, in (Segens-) Worte gegossen – nötig haben Menschen den Schutz allemal.
Also, ich gehe dann mal, um bereit für den nächsten Filmabend zu sein!
Anonymous
Gepostet um 06:45 Uhr, 14. AugustUns ist bei der Taufe das Kreuz auf die Seele gesalbt worden, das uns dem Tod ungeniessbar macht, so dass er uns wieder ausspucken wird, wie der Wal den Jona
Michael Mente
Gepostet um 08:33 Uhr, 14. AugustSchutzmäntel sind praktisch. – In Süditalien gibt es/ gab es den Glauben, dass ein Baby besonders gesegnet ist, ein glückliches Leben als starker Mensch erleben kann, wenn es „mit dem Hemdchen“ geboren wird: „è nato con la camicia“. Ich bin kein Experte, aber soweit ich weiss, wird der Fötus in den letzten Wochen vor der Geburt mit einer Fettschicht überzogen; diese kann dann bei der Geburt noch sichtbar sein, worauf es eben aussieht, als ob der Säugling ein Hemdchen trägt, wenn er auf die Welt kommt. Uraltes Denken ist damit verbunden und wurde dann von der katholischen Kirche gemäss Ethnologen übernommen: Zur Taufe wird das Kind noch einmal mit einem weissen Kleid versehen und mit dem Taufritual noch offiziell gesegnet. – Die Tradition half dann noch nach, dass man dieses Glückshemd (camicetta della Fortuna) als erstes Kleid des Kindes auch kaufen und dann in der Familie (ungewaschen) von Mutter zu Mutter weitervererben kann.
Barbara Oberholzer
Gepostet um 09:10 Uhr, 14. AugustDankedankedanke für diesen erfrischend un-churchy Beitrag ?! Genauso läufts auch bei uns zu Hause seit Monaten („Kinder“ 20 und 24). Und letztes Jahr war das grosse Pokémon-Revival, an welchem noch in den entlegendsten Tessiner Dörfer nach Pokémons gejagt wurde. Ach, ich möchte auch wieder jung sein! Vllt schreib ich für diesseits mal einen Beitrag über Game of Thrones, da bin ich auch voll dabei! Und auch diese Bücher wurden in der Schweiz erstmals als Fantasy-Jugendliteratur gehandelt.
Esther Gisler Fischers
Gepostet um 09:19 Uhr, 14. August‚Game of thrones‘ mit der Darstellung expliziter Vergewaltigungen drin? Nein danke!
Anke Ramöller
Gepostet um 09:45 Uhr, 15. AugustWenn un-churchy heisst, das Göttliche im „Diesseits“ zu finden, bin ich unbedingt dabei. Ein Beitrag zu Game of Thrones fände ich klasse. Nicht so sehr zu den Filmen, sondern wenn lasse ich mich gern zu den Büchern verführen. Vielleicht wird dann da mein Widerstand überwunden! ?
Barbara Oberholzer
Gepostet um 09:37 Uhr, 14. AugustHast du die Bücher gelesen? Die Verfilmung ist leider viel reisserischer und brutaler und manchmal auch schlicht verfälscht.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 10:42 Uhr, 14. AugustOk, Auch sonst kann ich mit Fantasy-Büchern und -filemen herzlich wenig anfangen. Die Realität in Nachrichten etc. bietet mir schon genug an Grässlichkeiten, Intigen und Unmenschlichkeit.
Barbara Oberholzer
Gepostet um 09:41 Uhr, 14. AugustDie Bücher sind Hammer, imfall! Und gesamthaft sicher 10’000 Seiten! Das letzte wird immer noch sehnlichst erwartet. Get a move, George RR Martin?!
Barbara Oberholzer
Gepostet um 09:49 Uhr, 14. August@Esther Gisler: Und mit gaaaanz starken Frauenfiguren!! Aber jetzt hör ich auf, schliesslich gehts hier um Harry Potter.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 10:43 Uhr, 14. AugustJa, stark muss frau wohl sein, wenn eine Vergewaltigung ins Haus steht. ;-((
Habe leider keinen Zeit, um solche Schmöker zu lesen …
Anke Ramöller
Gepostet um 13:03 Uhr, 14. AugustLieber Anonymous. nicht alle Reformierten sind getauft. Vielleicht verstehen nicht alle, worum es bei der Taufe gehen könnte. Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen können die Geschichten um Harry Potter und seine FreundInnen verdeutlichen, was der Kern von Schutzzeichen ist: dem Tod entkommen. Dort jedenfalls ist es in Erzählungen gefasst, die fesseln, innerhalb der Zauberwelt plausibel sind und zum Nachdenken inspirieren. – Und wenn man dann noch über Gelesenes und Gesehenes spricht! Was könnte alles dabei herauskommen…..
Anke Ramöller
Gepostet um 13:19 Uhr, 14. AugustLieber Michael, vielen Dank für Deinen grossartigen Hinweis!!! Ich finde solche Zusammenhänge extrem spannend. Viele Eltern suchen nach starken Zeichen. Sie wollen sehen und spüren, dass ihr Neugeborenes nicht einer unbarmherzigen Welt gnadenlos ausgeliefert ist. Dann wird schon ein kleiner Stoffbär mit in die Wiege gelegt, auch ein Auferstehungssymbol und ein Symbol für die gütige Mutter Erde, den meisten gar nicht bewusst. – Vielen Dank auch für die Erklärung zum weissen Taufkleid. Davon habe ich nichts gewusst.
Anke Ramöller
Gepostet um 13:34 Uhr, 14. August.. und dann die Diskussion über Fantasy-Literatur überhaupt. Ich finde den Siegeszug der Fantasy-Welten auf der einen Seite verblüffend! Wie viele Kinder haben Harry Potter gelesen, auch wenn sie sonst Bücher nur mit spitzen Fingern angefasst haben! Auf der anderen Seite interessiert mich inzwischen brennend, wie existentielle und religiöse Fragen in dieser Literaturgattung zur Sprache kommen. Ich wünschte mir mehr TheologInnen, KatechetInnen und PfarrerInnen, die sich neugierig und aufgeschlossen in diese Welten begeben, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in ihrer Begeisterung für Fantasy begegnen und diese zum Anlass für spannende Gespräche über „Gott und die Welt“ nehmen.
Corinne Duc
Gepostet um 21:48 Uhr, 14. AugustGuten Abend – ein paar Links zum Thema finden Sie unter http://blog.firmis.ch/2017/03/25/test001/ (Referenz 1 darin mit weiteren einschlägigen Hinweisen)
Anke Ramöller
Gepostet um 09:40 Uhr, 15. AugustVielen Dank für den Tipp!
Elisabeth Schüsslbauer
Gepostet um 16:43 Uhr, 14. AugustIn diesem Zusammenhang darf Snape nicht fehlen, der sich durch seinen immer wallenden („billowing“) Zaubermantel auszeichnet. Eigentlich ein deutlicher Hinweis darauf, dass er jederzeit bereit ist, seine Schüler (insbesondere Harry) zu beschützen und zu verteidigen – auch wenn es vordergründig zunächst nicht so scheint. Unvergessen die Szene, wo er sich schützend zwischen den zum Werwolf mutierten Remus und das „goldene Trio“ stellt, die Arme und damit auch seinen Mantel weit ausbreitet …
Anke Ramöller
Gepostet um 09:25 Uhr, 15. AugustLiebe Ella, daaanke für deine begeisterte Ergänzung! In der Figur Snapes leuchtet – unter zahlreichen anderen Aspekten – für mich auch die Erfahrung auf, dass Böses oder Gutes oft erst nach langen Zeiten des Rätselns, manchmal überhaupt erst im Nachhinein, identifiziert werden kann. Ein Zaubermantel ist nicht immer das, wonach er aussieht. Und was ist Segen? Manchmal, wie bei dem alttestamentlichen Josef, sieht nach Fluch aus, was am Ende überwältigender Segen ist.
Eveline
Gepostet um 08:08 Uhr, 15. AugustDanke für den Beitrag! … sind auch riesige Potterfans, ich und die Kids ?-
Bin selbst eingestiegen in die Serie von hinten- mit Bd 7-
J.K.Rowling verliert ja bewusst kein Wort über Religion oder Konfession in der Serie, wg Offenheit- bzw. Toleranz. HP ist eine Serie für alle- mir gefällt dein Hinweis auf die Offenheit, die Gnade braucht.
Anke Ramöller
Gepostet um 09:39 Uhr, 15. AugustLiebe Eveline, du hast es nochmals von einem anderen Aspekt her aufgeschlüsselt: Gnade braucht Offenheit – habe ich die Richtung zutreffend verstanden? Wenn das „goldene Trio“ nicht immer wieder dahin zurückfände, von der absoluten Vertrauenswürdigkeit Dumbledores auszugehen, durch alle abgrundtiefe, gnadenlose Verzweiflung hindurch, könnten sie niemals Voldemort besiegen.