Vom Angesicht – Gesichtserkennung im Gottesdienst
Letzthin offenbarte mir eine befreundete Pfarrperson, dass der zuständige Sigrist die Anzahl der Gottesdienstbesuchenden nicht sauber nachgetragen, ja gelegentlich schlicht vergessen habe. Es sei deshalb leider nicht möglich zu dokumentieren, wie sehr die Kirchgemeinde floriere.
Was in diesem Einzelfall schade ist, wächst sich zu einem gravierenden Problem aus, wenn man die Teilnehmenden einer ganzen Kirchgemeinde erfassen möchte. Noch fehlen uns die Möglichkeiten, um beispielsweise herauszufinden, wer wirklich den Gottesdienst besucht. Wir können nur ungefähr abschätzen, in welchen Gottesdienstformen die verschiedenen Zielgruppen teilnehmen. Aber wie verteilen sich liberale und konservative, alte und junge, aber auch vermögendere und ärmere Kirchbürger*innen auf die einzelnen Angebote? Eine systematische Erfassung würde es uns erlauben, dezent herauszufinden, wer erst nach dem Gottesdienst in den Kirchenkaffee schleicht oder wer den Konfirmandenunterricht geschwänzt hat.
Nun bietet eine israelische Firma an, wonach wir uns vermeintlich schon lange sehnen. Mit Hilfe von Algorithmen zur Gesichtserkennung wird es möglich, aus Kameradaten von Gottesdiensten und Gemeindeanlässen live oder zeitverzögert herauszufiltern, wer wann anwesend war. Tausende Besuchende können bereits beim Betreten der Kirche analysiert werden, und der VIP-Detektor meldet, wenn ein Prominenter den Raum betritt. So verpassen wir nie wieder einen Bundesrat, einen pensionierten Pfarrer oder eine reiche Witwe, welche unsere Angebote nutzen. Während des Gottesdienstes liesse sich die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden dokumentieren und anschliessend mit dem Predigttext vergleichen. Es liesse sich vermutlich rasch belegen, dass die Aktivität im Gottesdienst nach dem Segen deutlich steigt. Beim Hinausgehen wäre es möglich, die einzelnen Beiträge zur Kollekte fotografisch festzuhalten und dadurch die Ansagen in den folgenden Gottesdiensten auf die spendenfreudigste Zielgruppe hin zu optimieren. So würde sich das Ganze auch rasch rechnen. Gegenwärtig kann das verfügbare Produkt noch nicht alle diese Wünsche erfüllen, aber mit ein wenig Kreativität liessen sich vermutlich rasch weitere Anwendungen finden. Zur Erfassung der Mitglieder der Kirchgemeinde genügt übrigens eine einfache Registration in einer Fotobox, welche sich gut in der Eingangshalle einer Kirche platzieren liesse. Wo so viele Vorteile vorhanden sind, erstaunt es nicht, dass laut Hersteller, bereits zehn Kirchen weltweit auf diese Technologie vertrauen und diese Gewinn bringend einsetzen.
Man könnte dazu neigen, es diesen gleich zu tun und ebenfalls rasch auf die Gesichtserkennung zu setzen. Ein Schelm, wer da denkt, dass diese Technik auch Schattenseiten haben könnte. Natürlich lässt sich die Türöffnung ebenfalls mit dieser Software steuern. Kommt ein Unbekannter ausserhalb der Gottesdienstzeiten, dann bleiben die Türen zu. Oder es liesse sich gezielt jemandem eine Lektion erteilen, wenn die Person beispielsweise regelmässig zu spät zur Probe des Kirchenchores käme, dann blieben die Türen zwecks Erziehung vielleicht auch mal zu. Aber abgesehen von solchen menschlichen Missbrauchsmöglichkeiten, ist mir persönlich schon die Grundvorstellung zuwider, wenn ich permanent damit rechnen muss, überwacht zu werden. Ich denke nicht, dass jemand das Recht haben könnte, zu analysieren, wann ich in einer Predigt in eigene Gedanken abschweife, wieviel ich Spende oder wie oft ich die Gemeindeanlässe besuche. Wenn ich wüsste, dass ich in Kirchen analysiert und ausgewertet werde, dann würde ich mich wohl eher als Objekt, denn als Subjekt wahrnehmen. Will ich denn derart von meiner Kirchgemeinde optimiert werden? Muss ich dann plötzlich bei meiner Lieblingspfarrperson jeden Anlass besuchen, damit sie nicht entlassen wird, weil es sonst ja nachweislich zu einem Rückgang der Besucherzahlen bei der Zielgruppe der jungen Familienväter gekommen ist? Ich fürchte, dass ich keiner, solchen Kirche angehören möchte und stattdessen lieber als handelndes Subjekt wahr- und ernstgenommen werden möchte, ohne dass irgendein Algorithmus dem anwesenden Sigristen mitgeteilt hat, dass ich die Grossdruckausgabe des Gesangbuches sowie die hinteren Bänke bevorzuge.
Statt einem Versuch mit Gesichtserkennung die Zahl der Teilnehmenden zu optimieren, würde ich gerade das Gegenteil vorschlagen. Wir könnten die Kirchen vermehrt als «offline» Räume positionieren, in denen man in der vernetzten und vermessenen Welt, die oft fehlende Ruhe und Einkehr finden kann. Ohne dabei ständig gefilmt und überwacht zu werden. Reformierte Inseln in einer von Technik durchzogenen Gegenwart, wo Konfirmand*innen ihren Gottesdienstbesuch noch mit kleinen Papierzettel bestätigen lassen können.
Marcus Degonda
Gepostet um 07:58 Uhr, 21. SeptemberIch bin Sigrist und weigere mich, die Anwesenden zu zählen und statistisch zu erfassen. Dies seit ich erfahren habe, dass gewisse Leute die Qualität der Predigten der verschiedenen Pfarrer*innen anhand dieser Zahlen beurteilen.
Handkehrum öffne ich die Kirche tagsüber und kontrolliere nicht, ob jemand sie benutzt. Dadurch erscheint dieses Angebot auch nicht im grossen Datenfriedhof, der letztes Jahr erhoben wurde. Eigentlich schade, dass die Kirche von Erbsenzählern reformiert werden soll. Der Glaube an die Statistik ist halt manchmal stärker als derjenige an Gott.
THOMAS GROSSENBACHER
Gepostet um 08:06 Uhr, 21. September… David verhedderte sich ja auch im Hirngespinstgewebe der Berechenbarkeit vermeintlicher Stärke.
Darum erinnere ich mich gerne an jenen geistesgegenwärtigen Pfarrer, der ohne lang zu rechnen erkannt hatte, dass es eines Sonntagmorgens gerademal vier Personen (er inklusive) waren, die den Gottesdienst besuchten.
Beim ersten Lied sagte er: Wir singen Lied 159 „Liebster Jesu, wir sind vier …“ Er hat nicht nur die Gesichter der anwesenden erkannt, sondern auch ihre Seelenlage. So hellte sich nach dem Eingangsspiel und dem Kanzelgruss dee Gottesdienst mit einem erlösenden Lachen auf. Er war übrigens sehr gehaltvoll und schön. Das Ganze trug sich anfang 80-er Jahre in Basel zu.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 09:02 Uhr, 21. SeptemberEin Hurra auf diesen geistesgegenwärtigen Pfarrer!
Barbara Oberholzer
Gepostet um 08:36 Uhr, 21. SeptemberWir im Unispital zählen unsere GottesdienstbesucherInnen auch und präsentieren die Zahlen jedes Jahr der Spitadirektion – als ein sichtbares Zeichen auch von spirituellen/kultischen Bedürfnissen im
USZ. SigristIn haben wir nicht, Pfarrpersonen zählen selbst. Schon nur dass wir eine Kirche haben, ist bei der Platznot des USZ nicht selbstverständlich. Namentlich erfasste PatientInnen werden den Seelsorgenden der entsprechenden Stationen weitergemeldet, damit sie möglichst bald (wieder) besucht werden können. Am Schluss also doch Beziehungspflege – darum gehts! Gegen eine ständige Überwachungskamera in der Kirche haben wir uns trotz Diebstähle und Vandalenakte in der immer offenen Spitalkirche gewehrt – genau aus den im Blog erwähnten Ueberlegungen.
Barbara Oberholzer
Gepostet um 08:38 Uhr, 21. September… trotz DiebstähleN und VandalenakteN ?
michael vogt
Gepostet um 16:04 Uhr, 21. Septembereine fotobox ist offenbar eine art fotoapparat im unterschied zur fotokiste, in die man hineingeht, sich setzt und knipst. offline räume könnten auch offelektronik räume sein. warum hätte ich die box nicht fürchten? weil ich nie in der kirche bin. und warum nicht? weil ihre lautsprecheranlagen mich in einen qualvollen entrückungszustand versetzen. in berlin wird gerade heute das deutsche internetinstitut eröffnet, das dem nachhinken der forschung etwas nachhelfen will. bezeichnenderweise wird auch hier nicht bedacht, dass die digitale welt immer auch eine elektronische welt ist. für mich ist die frage, wie weit die technisierung der welt ein ankommen der zukünftigen vollkommenheit ist oder wieweit diese gerade die alternative darstellt. obschon ich das erste nicht bestreiten will, interessiert mich mehr das zweite: schauen von angesicht zu angesicht erübrigt box, kiste und botox.
michael vogt
Gepostet um 16:05 Uhr, 21. Septemberhttp://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/neues-internet-institut-der-alltag-wird-digitaler-wir-forscher-kommen-kaum-hinterher
michael vogt
Gepostet um 21:37 Uhr, 24. Septemberim dritten satz fehlt ein „zu“, und im ganzen: ein t e i l des offline könnte offelektronisch sein