Manchester by the Sea – ein aufwühlender Film zu existentieller Schuld

Fällt Ihnen zum Stichwort Manchester auch sofort „united“ ein? Oder ist es schon „Manchester by the sea“? Letzteres ist sicher bei denen, die die Oscar-Verleihungen auf dem Programm haben, der Fall. Der Film hat 2017 für den besten Hauptdarsteller (Casey Affleck) und das beste Originaldrehbuch (Kenneth Lonergan) je einen Oscar erhalten. Genügend Gründe zunächst, um es zum neuen Jahr mit einem Filmabend zu versuchen. Es geht sehr gemächlich los, und ich frage mich sofort, ob hier jemand einen Retro-Film drehen wollte. Die Einstellungen sind so langsam, dass man kaum ein Fortkommen sieht. Und dann 137 Minuten! Hält man das durch? Man hält durch. Und zwar mit gutem Grund.

Lee Chandler ist Abwart. Er scheint nicht freundlich auf Menschen reagieren zu können. Auch die kleinen Flirts der Frauen, bei denen er tropfende Wasserhähne und verstopfte Ausflüsse repariert, werden von dem gut aussehenden Typen nicht zur Kenntnis genommen. Selbst Ironie oder freche Sprüche fehlen völlig. Unvermittelt gibt es Szenen, die man erst mit Verzögerung als Rückblicke erkennt. Gegenwart und Vergangenheit scheinen für Lee völlig zu verschwimmen. Sein Bewusstsein vermengt die Zeitstufen ohne Übergang. Nach und nach enthüllt der Film die Katastrophe, die Chandler zu diesem Menschen gemacht hat.

Zwei Perspektiven beschäftigen mich intensiv. Das übliche Hollywood-Schema ist: Irgendwann kommt eine umwerfende Frau und rettet den Unglücklichen aus seinem Eingesponnensein. Endlich kann er wieder leben und vergessen, was sein Dasein für Jahre überschattet hat. Schuld ist dann eine endliche Kategorie. Irgendwann ist sie abgetragen und das Schicksal schenkt dem tragischen Helden eine zweite Chance in Gestalt einer alles überstrahlenden Liebe. Westeuropäer und Nordamerikaner sind dieses Schema seit der Romantik in der Nachfolge der Aufklärung im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewöhnt. Man erwartet es in der Regel nicht anders. Die Liebeserfahrung mit der irdischen Frau trat in der Zeit des Sturm und Drangs und der Romantik an die Stelle der Gotteserfahrung. Goethes „Werther“ ist da nur ein herausragendes Beispiel. Wir kennen das mit allen Höhen und Tiefen. Liebesbeziehungen sind seit dieser Zeit besonders überfrachtet mit dem unendlichen Wunsch, uns von den Lasten des irdischen Daseins zu befreien. Eine Sache, die weitgehend zum Scheitern verurteilt ist.

„Manchester by the Sea“ macht diesen Versuch gar nicht erst. Die Avancen der verschiedenen Frauen in der Geschichte von Lee Chandler dringen nicht durch die Schwere, die sein Schicksal auf ihn gelegt hat, nicht einmal im Ansatz. Seine Ex-Frau macht ihm auf dem Höhepunkt des Films die berührendste Liebeserklärung überhaupt und beide stammeln und weinen sich durch einen Augenblick Hölle. Nein, es gibt keine Rettung mehr. Die Schuld ist zu gross.

Und die zweite Perspektive: Ein Priester tritt in einer den Plot vorantreibenden Abdankung auf und spielt – eine Statistenrolle! Nicht einmal ein Versuch von seiten des Pfarrers wird dargestellt, durch die Höllenkreise der Verluste zu den Zurückbleibenden durchzudringen. Man hat inzwischen akzeptiert, dass ein Pfarrer ein leeres Ritual vollzieht, weil es sich anscheinend so gehört. Substantielles zu Fragen von Schuld und irdischer Hölle zu sagen, wird dem Christentum nicht mehr zugetraut.

So stellt sich für mich die Frage: Kann Ästhetik und Kunst an die Stelle der verlorenen Möglichkeiten treten?

Vielleicht ist es realistisch zu sagen, dass die schwere existentielle Schuld, die Lee Chandler in seiner Bilanz auf sich geladen sieht, niemals abgetragen werden kann. Randi, seine Ex-Frau, sagt: „Mein Herz ist gebrochen…. und er kann nur qualvoll stammeln: Nein, da ist nichts mehr…“ – Sein Dasein scheint wie ausgelöscht, nichts, was ihn ins Leben zurückholen kann. Nach dem Film sitzen wir lange und reden über dramatische Augenblicke in unserem Leben, in denen wir der Schuld an einem Unfall nur knapp entronnen sind. Wie nahe liegen Tragödie und Glück beieinander!

Während wir den Film schauen, bin ich völlig im Bann des Unglücks. Immer hofft man, dass es noch irgendetwas geben könnte, was ihn befreit. Und man weiss gleichwohl: Die Schwere seiner Schuld ist nicht zu überwinden, auch wenn objektiv klar ist, dass man ihm keinen Vorwurf machen kann und sein Handeln keinen Straftatbestand darstellt. – Und trotzdem: Die Einsamkeit, in die Lee Chandler geschleudert ist, lässt einen frieren. Aber noch etwas anderes passiert bei mir. Ich leide mit ihm mit. Und ich frage mich jetzt, ob es das ist, was wir Menschen einander geben können, nämlich da zu sein und das Unglück eines anderen auszuhalten, nicht wegzuschauen, es nicht wegzureden, kein „te absolvo“ (ich spreche dich frei) zu sprechen, das doch nicht an den Kern rühren könnte.

Am Ende sieht man Lee Chandler auf dem Boot sitzen, das er zu Beginn schon fuhr. Am Anfang des Films waren er, sein kleiner Neffe Patrick und sein Bruder Joe auf dem Schiff. Nun ist sein Neffe fast erwachsen und Patrick zeigt seiner Freundin voller Begeisterung und Lebensfreude, wie man das Boot steuert. Lee lehnt an der Reling und schaut den beiden zu.

Manchester by the Sea (2016). Ein Film von Kenneth Lonergan

 

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10 Kommentare
  • Reinhard Rolla
    Gepostet um 08:26 Uhr, 17. Januar

    Bitte enthüllen, welche Katastrophe Lee Chandler zu dem Menschen gemacht hat… Ohne diese Info kann ich wenig bis nichts mit dem ganzen Text anfangen.

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    • Anke Ramöller
      Gepostet um 12:09 Uhr, 17. Januar

      Ich habe den Umstand wegen der Leute nicht benannt, die sich den Film noch anschauen wollen.
      Aber für alle, die die ganze Geschichte wollen: Lee Chandler hatte eine feucht-fröhliche Nacht mit seinen Kollegen. Drei Kinder und Randi, seine Frau, schlafen im Obergeschoss des Hauses. Nach dem Ende des Treffens ist es sehr kalt im Haus. Wegen seiner Familie feuert Lee den Kamin im Wohnzimmer ein. Er merkt dann, dass er kein Bier mehr hat, geht in den nächsten Supermarkt. Als er zurück kommt, steht das Haus vollständig in Flammen. Nur seine Frau kann schwer verletzt geborgen werden, Lees Kinder sind verbrannt.

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  • Reinhard Rolla
    Gepostet um 12:12 Uhr, 17. Januar

    Danke!

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  • Anke Ramöller
    Gepostet um 13:57 Uhr, 17. Januar

    Ich habe den Umstand wegen der Leute nicht benannt, die sich den Film noch anschauen wollen.
    Aber für alle, die die ganze Geschichte wollen: Lee Chandler hatte eine feucht-fröhliche Nacht mit seinen Kollegen. Drei Kinder und Randi, seine Frau, schlafen im Obergeschoss des Hauses. Nach dem Ende des Treffens ist es sehr kalt im Haus. Wegen seiner Familie feuert Lee den Kamin im Wohnzimmer ein. Er merkt dann, dass er kein Bier mehr hat, geht in den nächsten Supermarkt. Als er zurück kommt, steht das Haus vollständig in Flammen. Nur seine Frau kann schwer verletzt geborgen werden, Lees Kinder sind verbrannt.

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  • michael vogt
    Gepostet um 16:49 Uhr, 17. Januar

    danke für frage und antwort. während des lesens habe ich die antwort auch vermisst, mir aber gesagt: „es kommt nicht darauf an, es ist immer so.“ ich würde auf ihn zugehen in der wahrheit der rechtfertigung der gottlosen durch den tod von christus und ihrer vereinigung mit den analogien in andern religionen und in nicht-religionen. das muss nicht heissen, dass ich davon reden würde. parallel dazu sähe ich ihn als opfer einer geschichte von milliarden von jahren – er hatte keine andere möglichkeit – und durch eine geschichte von milliarden von jahren begabt. in der im tod des todes und seiner verwandlung in leben begründeten verheissung, sehe ich die zerstörte familie vollkommen vereinigt. eschatologie ist aber nicht nur die lehre von der zukünftigen vollkommenheit, sondern auch von ihrer auswirkung auf die gegenwart. das alles würde ich versuchen, ihm auf irgendeine geissart mitzuteilen – und, wenn möglich, auch seiner frau. die integration des todes in das leben ist zugleich ist die transformation des lebens der durch ihre vergangenheit niedergeschlagenen. ist es ein segelboot? falls nicht – angesichts des bereits wieder augekommenen stürmischen westwinds – ein nicht zeitgemässes symbol.

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