Du bist nichts!

Auf der Insel Rügen, hinter einem wunderschönen Sandstrand, befindet sich einer der längsten Gebäudekomplexe der Welt. Es handelt sich um das von den Nationalsozialisten geplante „Seebad Prora“, eine Ferienanlage ihrer Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“.Der Komplex besteht aus acht aneinandergereihten Blöcken auf einer Länge von 4,5 km, dazu waren Wirtschaftsgebäude, eine Festhalle und ein riesiger Aufmarschplatz geplant. Gebaut wurde zwischen 1936 und 1939 im Rekordtempo. Dann wurden wegen des Krieges die Bauarbeiten gestoppt. Zurück blieben die Gebäude im Rohbau.

Die DDR baute einen Teil zur monumentalsten Kasernenanlage ihrer „Nationalen Volksarmee“ aus. 10 000 Soldaten waren hier gleichzeitig kaserniert. Das Gelände wurde zum militärischen Sperrgebiet. Seit der Wiedervereinigung rottet der „Koloss von Prora“ vor sich hin. In einem Gebäudeteil wurde eine Museumsmeile eingerichtet, die sowohl an die Nazi- wie auch die DDR-Vergangenheit erinnert.

Der Gang durch das Museum war für mich beklemmend: Die erschlagende, düstere Architektur, der muffelige Geruch, das Beispiel eines KdF-Ferienzimmers, das eher an eine Gefängniszelle erinnert. Auch die Ausstellung von NVA-Uniformen und -Waffen liessen meine Stimmung nicht gerade aufhellen. Und im „Wiener Kaffee“ im obersten Stock mochte mir trotz Strausswalzer und Sachertorte nicht wirklich wienerisch zumute werden. Ich wähnte mich eher im falschen Film.

Doch das Erschütterndste an Prora ist, dass man hier eine Ahnung davon bekommt, wie die deutsche Gesellschaft ausgesehen hätte, wenn die Nazis den Krieg gewonnen und ihre Vorstellungen vom „Tausendjährigen Reich“ hätten verwirklichen können. 20 000 Menschen sollten hier gleichzeitig ihre Ferien verbringen, jeweils 10 Tage lang. Jeder Ferientag wäre minutiös durchgeplant gewesen: 6.20 Uhr aufstehen, 6.30 Uhr Frühsport. Nach dem Frühstück Besammlung zur ersten Propagandaveranstaltung. Zwischendurch etwas Freizeit. In jedem der spartanisch eingerichteten Zimmer ein Lautsprecher, um die Urlauber mit „Reden des Führers“ zu beschallen. Die Ferien in Prora sollten vor allem der Propaganda dienen und die Leistungsfähigkeit des „Deutschen Arbeiters“ erhalten und steigern.

Hier ist der Zugriff auf den Menschen total. Der einzelne Mensch verschwindet völlig in der Masse und zählt nichts mehr. Das Individuum löst sich auf in einem „Volkskörper“. Hier wird eine Ideologie sicht- und greifbar, die in dem Propagandasatz gipfelt: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“.

Prora ist heute einer der wenigen Orte, in denen sowohl die Nazizeit als auch die DDR-Vergangenheit präsent sind. Doch inzwischen haben clevere Investoren in den unverwüstlichen Gebäuden eine wahre Goldgrube entdeckt. Gebäudeteile wurden verkauft und ausgehöhlt, um darin Ferienwohnungen einzubauen. Eine Jugendherberge und ein Luxushotel existieren bereits. Natürlich erinnert dort nichts mehr an die Vergangenheit. Man will ja den Urlaubern nicht die Ferienstimmung vermiesen.

Doch ob die Geister zweier Diktaturen sich gänzlich aus dieser erdrückenden Architektur werden vertreiben lassen, wage ich zu bezweifeln. Zu sehr atmet dieses Gelände Totalität und Unterdrückung, die Gleichschaltung des Menschen im Dienste von menschenverachtenden Ideologien. Urlaub und Erholung werden hier nur zum Preis des Ignorierens und Verdrängens zu haben sein.

Irgendwann wird in Prora nichts mehr an die Vergangenheit erinnern. Das Museum wird schliessen. Der Erhalt einzelner Gebäudeteile in seiner ursprünglichen Grässlichkeit wird wohl an den Finanzen scheitern. Das ist tragisch. Denn Prora ist ein eindrückliches Mahnmal gegen das Vergessen. Und so etwas ist heute wieder nötiger denn je.  

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2 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 16:51 Uhr, 12. Februar

    unsere gewaltigen ferienverkehrströme lassen grüssen, in der luft, auf dem boden und zu wasser. die bauten und überbauungen. unsere wirtschaftliche und seelische abhängigkeit von dieser „freiheit“. wie wird das mahnmal aussehen? wenn ich nach dem goldenen mittelweg frage, bin ich – inspiriert durch die zur zeit 12 letzten beiträge zur vorangehenden diskussion (ab 09:32h, 08 Februar) – versucht zu sagen: paulus. seine antwort: nein, jesus. dieser wiederum spielt den ball zurück: meine damalige botschaft war unvollständig, du kennst mich und alle andern ja auch nicht mehr „dem fleische nach“, und es ist schon so, wie du sagst: alles in allem. die alles verändernde vereinigung von allem mit allem.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 18:29 Uhr, 12. Februar

    Lieber Herr Vogt, gewisse Kommentare von Ihnen versuche ich erst gar nicht mehr zu verstehen … ?

    Aber danke der Autorin für diesen beindruckenden und sehr bedenkenswerten Beitrag!

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