Politische Kirche
„Die Kirche soll sich nicht in die Politik einmischen“. So hört und liest man immer mal wieder, vor allem dann, wenn die Kirche eine Meinung äussert, die irgend jemandem nicht passt. Dabei ist das Wesen der Politik ja gerade, dass man miteinander diskutiert. Politik ist immer Einmischung, jedenfalls in einer Demokratie. Warum sollte eine Organisation, die als eine wesentliche Aufgabe die Vermittlung von Werten hat, sich ausgerechnet nicht in die politische Debatte einbringen können? Das ist doch eigentlich absurd. Also etwas mehr Vertrauen in die Demokratie! Etwas mehr Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger!
Die Kirche ist kein Parallelstaat, der mit Macht seine Mitglieder zwingen kann. Wo das der Fall war oder noch ist, ob es nun evangelische, katholische, orthodoxe oder islamische Gottesstaaten waren, ist die Forderung allerdings nötig. Schon nach der Niederlage im zweiten Kappelerkrieg 1531 hat man den Pfaffen das Hetzpredigen verboten. Von dort kommt die alte Forderung, die Kirche solle sich nicht in die Politik einmischen. Wir brauchen weder damals noch heute Geistliche, die den Staat im Namen Gottes zum Handeln aufrufen. Keine religiöse oder ideologische Organisation soll die Gewissen mit Macht binden – und damit der freien Meinung, die ja die Grundlage der Demokratie ist, eine Fessel anlegen.
Völlig unklar ist allerdings, wer oder was denn die Kirche überhaupt ist. Römische Katholiken denken wahrscheinlich an die Äusserungen der Hierarchie, angefangen beim Papst bis zu den Bischöfen. Da wird zum Volk geredet aus einer Autorität heraus, die direkt von Gott abgeleitet wird, oder zumindest aus der Tiefe der Tradition. Aus reformierter Sicht kann es das so gar nicht geben. Eine reformierte Gemeinschaft kann nicht bloss ein Empfangsort heiliger Mitteilungen sein. Stattdessen kommen mündige Gläubige im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes zu persönlich begründeten Überzeugungen, über die sie sich miteinander austauschen. Theologische Fachleute können dieses Gespräch moderieren, mit Sachinformationen bereichern und auch in eine bestimmte Richtung lenken, mit nachvollziehbarer und bestreitbarer Begründung. So wird es bei Reformierten kaum je die Meinung der Kirche geben.
Das macht es nun aber gerade für diejenigen schwieriger, die umgekehrt fordern, die Kirche müsse sich verstärkt politisch einbringen. Gemeint ist jeweils, natürlich im Sinne derer, die das fordern. Oder verbunden mit dem Zusatz, dies möglichst ausgewogen zu tun, was offensichtlich ein Widerspruch in sich ist. Der Eindruck täuscht wohl nicht ganz, dass die fehlende religiöse Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft durch gesteigerte politische Meinungsaktivität kompensiert werden soll. Aber braucht es neben all den vielen Meinungen noch eine weitere, die etwas religiös begründen sollte, dies dann aber gerade nicht tun kann, weil sie die Gewissen nicht religiös binden darf?
Die Kirche im reformierten Sinn ist konkrete Gemeinschaft im Loben, Beten und Hören auf das Wort Gottes. Diese konkrete Gemeinschaft trägt konkrete Anliegen der Mitmenschen miteinander und vor Gott. Daraus entsteht auch gemeinsames Handeln. Kirche wird öffentlich durch die evangelisch begründete Tat. So kann sich moderne Kirche in eine moderne Gesellschaft einbringen. Wenn dann einem kirchlichen Repräsentanten dazu die richtigen Worte einfallen, umso besser. Wort und Tat gehören zusammen, um als Kirche glaubwürdig zu sein. Das muss sie unterscheiden von blosser Parteipolitik. Kirche ist nicht politisch, weil sie politisch sein will. Kirche ist politisch, weil und wenn sie Kirche ist.
David Jäggi
Gepostet um 21:09 Uhr, 30. SeptemberEs stimmt: „Kirche ist politisch, weil und wenn sie Kirche ist“. Nur verläuft für mein Verständnis die Argumentation innerhalb des Artikels nicht auf diesen fulminanten Schlusssatz hinaus. Kirche hat immer eine politische Dimension. Und zwar nicht dadurch, dass irgendeinem kirchlichen Repräsentanten ein religiös begründetes Votum in den Sinn kommt, welches er im formalen politischen Diskurs beschämt einbringt.
Die Kirche (und das schliesst unsere katholischen Brüder und Schwestern ein, welche hier mit einem zynischen Augenzwinkern als unmündige „Empfänger heiliger Mitteilungen“ bedacht werden) IST politisch, weil Kirche die neue Menschheit repräsentiert, welche in der Gesellschaft präsent ist. Kirche ist eine neue Sozialordnung. Weil Kirche gedacht ist als Prototyp des Lebens, so wie sich Gott das Zusammenleben vorgestellt hat. Darum ist Kirche politisch. Sie ist Medium und Message, Präsenz gelebter Gemeinschaft in der Welt und dadurch gelebtes Evangelium und nicht nur Sprachrohr. Auch nicht nur soziale Täterin. Sie verkörpert heilige Lebensführung, geschwisterliche Liebe, das Zeugnis des Glaubens und das Kreuz (Gewalt- und Machtverzicht, Leidensbereitschaft). Nicht in Perfektion, sondern in Transparenz und dem Wissen um die eigene Zerbrechlichkeit.
Das Kreuz hat eine politische Dimension: Hier wird jemand umgebracht durch die Machthaber, weil er es wagt, etwas anderes zu leben und einem anderen Herrn zu dienen, als dem römischen Kaiser.
Der Gottesdienst ist eine politische Veranstaltung. Wir reden darüber, wer Herr der Welt ist und verpflichten uns je neu, dem einen Herrn der Welt.
Kirche ist politisch. Das wusste schon Karl Barth (Christengemeinde und Bürgergemeinde), das wusste auch John H. Yoder (Die Politik Jesu) und viele weitere mehr.
Ueli Kappelhof
Gepostet um 18:07 Uhr, 01. OktoberDer Artikel ist sehr sehr problematisch in meinen Augen: Es gibt besonders zwei Punkte, die mich sehr verärgern. Der erste: Der Kirchenratspräsident hat vor kurzem einen äusserst peinlichen Facebook Post veröffentlicht, in welchem er von einer Frau schrieb, die sich im Zug schminkte. Er fragte sich ob da das Burka nicht auch auf andere Frauen und nicht nur muslimische erweitern sollte. Also der Kirchenratspräsident lässt sehr gerne politische Aussagen heraus…. und spricht von Demokratie. Zweitens, er fragt immer wieder, bei fast jedem Anlass „Was ist die Kirche?“ Er weiss es sehr wohl und freut sich im Artikel wieder mal etwas geniales (die Basisdemoklratie), um sich davor zu bewahren nicht nur auf Facebook politisch auszurutschen sondern in aller öffentlichkeit eindlich einmal etwas kirchliches, christliches zu äussern.
Michel Müller
Gepostet um 21:38 Uhr, 01. OktoberIch würde ja gerne antworten. Aber der Autor versteckt sich hinter einem Pseudonym, das zudem noch einen Anspruch erhebt (Ueli = Zwingli?, Kappelhof = Bullinger?), das er weder sprachlich einlösen kann, noch, dass er deren Mut hätte, das Gesicht hinter seinem Ärger zu zeigen.
Wilfried Inner
Gepostet um 15:27 Uhr, 02. OktoberAuf einem Blog der reformierten Kirche Zürich versteht man unter „Kirche“ naheliegenderweise die beiden Kantonalkirchen. Ob sie allerdings noch das sind, was man ursprünglich einmal unter „Kirche“ verstand, ist aus guten Gründen zu bezweifeln.
Solange sie vom Staat finanziell derart verhätschelt werden, handelt es sich bei diesen vor allem und in erster Linie um „geschützte Werkstätten“, wie alt-Regierungsrat Martin Graf einst treffend analysierte. Das schliesst von vornherein aus, in der Gesellschaft auch nur im geringsten ernst genommen zu werden. Kirchen, die sich jeweils für einen Zeitraum von sechs Jahre und dazu in einem „Globalbudget“ jährlich ca. 150 Mio. CHF garantieren lassen, haben den Bezug zur Realität verloren. Sie glauben genauso wie verzogene Pubertierende, das Geld käme aus dem Bancomat.
Wollten Kirchen in der Gesellschaft mehr als eine bloss folkloristische Rolle spielen, müssten sie zuerst erwachsen werden und lernen, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, d.h. Reprivatisierung, dazu fehlt aber jede Bereitschaft.
Ich persönlich habe nichts gegen Religionsfolklore an einigen Tagen im Jahr. Genauso wie das Zürcher Sechseläuten oder das eidgenössische Trachtenfest, aber hierzu muss man keine öffentlich-rechtliche Körperschaft sein. Also: geschützte Werkstätten und Folkloregruppen haben nichts mit Politik zu tun. Die Bedeutung der Kirchen beschränkt sich heute auf den Kreis ihrer Mitglieder und selbst dort nimmt er stetig ab. Religion ist längst zur Privatsache geworden. Damit sollten sich die Kirchen abfinden.
Felix Geering
Gepostet um 15:06 Uhr, 29. OktoberBei so viel Faktenresistenz ist jede Entgegnung zum Schwitern verurteilt.:-(
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 10:08 Uhr, 14. NovemberJa genau: Das Pseudonym ist Ueli Kappelhofs virtuelle Burka …
Anonymous
Gepostet um 14:30 Uhr, 07. OktoberDanke für den inspirierenden Artikel , Michel!
„Kirche ist nicht politisch, weil sie politisch sein will. Kirche ist politisch, weil und wenn sie Kirche ist.“ Dieser Ausspruch hat mich sehr angesprochen: Aber was ist genau damit gemeint? Wer ist genau Kirche oder wer macht genau Kirche? Alle (zahlenden) Mitglieder? Die „Profis“? Die Behörden? Und an was orientieren die sich? Am Evangelium? Was heisst das genau, an der Bergpredigt? An der Kirchenordnung? An der politcal corectness, keiner Partei (links wie rechts oder bitte) auf den Schlips zu treten? Schwierig… ich habe da auch keine befriedigende Antwort, Ich sehe aber, dass ich als Pfarrer nicht alles, was z.B. in der Bergpredigt steht, so inhaltsgemäss von der Kanzel verkünden kann: Man ist halt doch zu abhängig von seinen Wählern… Schade eigentlich!