Gemeinde auf Zeit
Nach wie vor ist die Parochie, die Kirchgemeinde vor Ort, das Eichmass für jegliche Form von Gemeinde. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass viele Menschen punktuell-selektiv bzw. situativ an Freizeitaktivitäten und auch an kirchlichen Angeboten teilnehmen und sich dabei nicht zwingend an ihrem Wohnort orientieren. Die Regel ist nicht mehr die Integration des Einzelnen in eine Parochie, sondern die Integration von kirchlichen Angeboten in die eigene Lebensgestaltung. Bilden sich bei solchen zeitlich-begrenzten Angeboten „Gemeinden auf Zeit“? Oder ist der Gemeindebegriff vielleicht gar nicht hilfreich für die Wahrnehmung dieser Angebote?
Kathrin Sauer untersucht im Rahmen eines Forschungsprojekts mit empirischen Methoden das Teilnahmeverhalten von Menschen bei Gottesdiensten im Grünen, Radwegekirchen und christlichen Reisen. Für das Forschungsprojekt wurden Kriterien für eine „Gemeinde auf Zeit“ formuliert. Sie hat eine geistliche, eine organisatorische und eine institutionelle Dimension. Geistlich gründet ihre Identität in Christus. Sie vergemeinschaftet aus Gnade durch Christus unterschiedslos. Institutionell werden die Versammlung um Wort und Sakrament, die Leitung durch Amt und allgemeines Priestertum geltend gemacht. Es muss eine konkrete Örtlichkeit gegeben sein. Die Praxis muss als kirchliches Geschehen identifizierbar sein und auf personaler Präsenz und Interaktion beruhen. Der gemeindlich-gemeinschaftliche Charakter wird zur Darstellung gebracht und kommt auch in den Deutungen der Beteiligten zum Ausdruck. Es handelt sich um ein organisiertes Setting im Verantwortungsbereich der Kirche mit professionellen Leitungsrollen und Verantwortlichkeiten. Die Teilnahmeform ist durch Punktualität und Selektion gekennzeichnet.
Die von Sauer untersuchten Angebote sind für die Interviewten mehrheitlich nicht Alternative, sondern Ergänzung zur Teilnahme an Angeboten ihrer Ortsgemeinde. Der Akzent liegt also mehr auf dem punktuell-selektiven Teilnahmeverhalten als auf dem überparochialen Charakter. Die Untersuchungen von Sauer zeigen, dass sich selbst bei diesen parochienahen Angeboten der Gemeindebegriff nur sehr begrenzt als hilfreich erweist. Insbesondere spielt er in den Selbstdeutungen der Interviewten kaum eine Rolle. Zwar stellt Sauer fest, dass hier Gemeinde in theologischer Form zu finden ist und dabei der konkrete Ort in der Natur bzw. der biblischen oder kirchlichen Landschaft, die eigene Präsenz vor Ort, die Interaktion mit anderen im Kontext der Verkündigung des Evangeliums und bei den Reisen auch die religiöse Bildungserfahrung eine Rolle spielen. Aber bei den Radwegekirchen steht die Gemeinschaft im Hintergrund und bei den Reisen wird das Erlebte in keinem Fall als zeitlich begrenzte Form von Gemeinde identifiziert. Natürlich kann das auch an den Grenzen empirischer Forschung liegen, die nur die verbalisierte Aussenseite eines Erlebens erfassen kann und nicht das, was in den Menschen selbst geschieht. Aber in ihrem Fazit stellt Sauer fest, dass die gemeindetheoretische Perspektive doch „ein schmales Sichtfenster“ auf eine christliche Gemeinde bietet. Wichtiger als der Gemeindebegriff erscheint in ihrem Fazit die Frage, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, um Menschen individuelle Möglichkeiten zu bieten, an Kirche anzudocken. Ästhetik und Resonanz hält Sauer dabei für zentrale Aspekte. Und sie verweist auf die Netzwerkperspektive, die geeignet ist, solche individuellen Anknüpfungspunkte und ihre Stärke in den Blick zu nehmen. Sie skizziert das Bild einer Kirche, die vielfältige und punktuelle Gelegenheiten zur Kommunikation eröffnet und unterschiedliche Möglichkeiten der Teilnahme eröffnet, parochiale und nichtparochiale. Netzwerke rechnen mit flüchtigen Begegnungen statt mit Mitgliedern. Welche Folgen hätte eine solche Sicht auf Kirche für unser Selbstverständnis, für unsere Strukturen und unsere Angebote?
Am Horizont tauchen noch grundlegendere Fragen auf. Nicht nur die Grundfragen des Forschungsprojekts: Wie können wir unseren Gemeindebegriff so erweitern, dass wir dem punktuell-selektiven Teilnahmeverhalten der Menschen Rechnung tragen? Welche Rolle spielt dabei die Parochie? Kann „Gemeinde auf Zeit“ eine sinnvolle Ergänzung sein? Wir müssen uns darüber verständigen, was eigentlich das Ziel neuer Gestalten von Kirche sein soll. Dienen sie als niederschwellige oder zielgruppenspezifische Anknüpfungspunkte, um am Ende die Gottesdienstbesuchszahlen zu steigern? Ist die Steigerung der Besucherzahlen bei unseren Angeboten das Ziel? Oder eine Steigerung der Freiwilligenzahlen? Sind sie Formen der Mitgliederbindung und ist das Kriterium die Entwicklung der Mitgliederzahlen? Oder bedeutet die Netzwerkperspektive, dass wir primär individuelle Anknüpfungspunkte und flüchtige Begegnungen ermöglichen, die sich vielleicht in den Mitgliederzahlen oder in der Teilnahme an unseren traditionellen Angeboten gar nicht niederschlagen? Die Diskussion über kirchliche Reformprojekte, fresh expressions, liquid church, etc. krankt oft daran, dass unterschiedliche Ziele mit den Konzepten verbunden werden und darüber keine ausreichende Verständigung stattfindet oder möglich ist.
Auch beim Forschungsprojekt „Gemeinde auf Zeit“ ist die Definition von Kirche als Ort der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung CA VII) das theologische Zentrum. Reformiert würde wohl noch stärker die Wortverkündigung und die Leitung der Kirche durch ihr alleiniges Haupt Jesus Christus betont. Dieses theologische Zentrum ist aber umstritten. Es gibt gute theologische Gründe für dieses Zentrum – in lutherischen Kirchen ist die CA Bekenntnisgrundlage. Dass etwas funktioniert und Echo findet, ist kaum ein ausreichendes Kriterium für kirchliches Handeln. Und dass etwas wenig Echo findet, kein zureichender Grund, darauf zu verzichten. Aber wir müssen uns neu verständigen, was dieses Zentrum bedeutet und bestehende Missverständnisse klären. Wortverkündigung ist mehr als Bibelwort und Predigt. Bedeutet dieses Zentrum automatisch eine Zentralstellung von Gottesdienst und Predigt? Wie verhält dieses Zentrum sich zur Selektivität, Punktualität und bunten Vielfalt des Teilnahmeverhaltens und der Teilnahmemotivationen? Müssen alle anderen Formen von Kirche ihre Übereinstimmung mit diesem Zentrum nachweisen, insbesondere die neuen und übergemeindlichen Formen? Wie kann dieses Zentrum so verständlich gemacht werden, dass es Innovation unterstützt und Neues ermöglicht? Oder müssen wir das Zentrum neu und anders definieren? So dass die Definition näher am Selbstverständnis und an der Sprache derer ist, die am kirchlichen Leben partizipieren oder partizipieren könnten? Wie könnte dann aber Beliebigkeit vermieden werden? Muss nicht auch ein solcher Versuch Auslegung des einen Zentrums Jesus Christus sein, weil wir als Kirche nicht selber unser Zentrum bestimmen können, sondern in einem Auftrag tätig sind, der uns vorgegeben ist – auch wenn er immer wieder neu interpretiert werden muss?
Eine letzte Frage
In meinen Augen denkt das Projekt „Gemeinde auf Zeit“ immer noch zu sehr von kirchlichen Angeboten her. So wichtig diese sind, ist es doch entscheidend, dass wir vermehrt auf Aufbrüche und Initiativen achten, die am Rande und ausserhalb der Kirche entstehen und diesen Raum und Unterstützung bieten, Gastfreundschaft und Kooperation. Denn nur an den Rändern entsteht wirklich etwas Neues. Dabei dürfen unsere institutionellen Interessen, unsere Mitgliederbindung oder Gottesdienstbesuchszahlen bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen.
Nachbemerkung: Die Tagung „Kirche in Bewegung“ am 15./16. März 2019 stellt Entwicklungsmodelle auf den Prüfstand und bietet Raum für die Diskussion. Kathrin Sauer wird bei dieser Tagung einen Workshop anbieten.
Das Buch: Kathrin Sauer, Unterwegs mit Gott. Radwegekirchen, Gottesdienste im Grünen und christliche Reisen als Gelegenheiten für „Gemeinde auf Zeit“, Kohlhammer, Stuttgart 2018
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michael vogt
Gepostet um 09:40 Uhr, 01. Februarich finde, es ist heute nicht mehr möglich, sich mit e i n e r religion und e i n e r konfession zu identifizieren und sich e i n e r person zugehörig zu fühlen. die bewegung geht, soweit ich sehe, in richtung zusammenfallen der gegensätze: jesus ist einerseits der christus, andererseits nicht, er ist zugleich gottes sohn und nicht gottes sohn. ich glaube, dass er selbst gar nicht im mittelpunkt stehen will. an auffahrt hat er seinen begrenzten kontext verlassen, ist in einen internationalen und universalen dialog getreten. dabei hat er die begrenztheit seiner damaligen botschaft eigesehen und lebt heute in einer entgrenzten existenz. hinter die coincidentia oppositorum omnium (das zusammenfallen aller gegensätze) tritt er einen schritt zurück. dementsprechend fallen – ähnlich der klostermauern – die kirchenmauern. organisationsformen eines christentums incurvatum in se ipsum überzeugen mich nicht. sie sind vielleicht das zur zeit mögliche, aber eben „auf zeit“.
Samuel Burger
Gepostet um 12:48 Uhr, 01. FebruarIn den Städten ist die Parochie doch schon lange obsolet geworden. Da wären Richtungskirchen doch das bessere Modell. Ich sehe zwei widerstrebende Tendenzen: Man will einerseits Kirche konsumieren, wo es gerade passt, einen anspricht oder man wegen einer Kasualie involviert ist. Andererseits besteht auch ein Bedürfnis nach Nestwärme, Gemeinschaft, gesehen werden. Gerade Freikirchen kommen letzterem sehr entgegen. Ich denke, als Kirche muss man für alle Stufen von Zugehörigkeit und Dauer offen sein. Auch bei einer völlig zusammengewürfelten Abdankungsgemeinde kann plötzlich ein «Gemeindegefühl» aufkommen, das inspiriert und trägt – auch wenn etliche sich danach nie mehr sehen werden. Hat nicht schon Bonhoeffer geschrieben, dass in der Kirche Akt und Sein kein Widerspruch, sondern eine Ergänzung sind?
Bernd Berger
Gepostet um 14:35 Uhr, 01. FebruarOb die Parochie in der Stadt wirklich obsolet geworden ist? In mancher Hinsicht stimmt das – aber warum stösst die geplante Schliessung einer Kirche auf Widerstand auch bei nicht sehr aktiven Kirchenmitgliedern, auch wenn die nächste reformierte Kirche nur wenige hundert Meter entfernt ist? Wir sollten die Bedeutung der Parochie auch in der Stadt, das Bedürfnis nach kleinräumlicher Zugehörigkeit nicht unterschätzen.
Sind Richtungsgemeinden wirklich das bessere Modell? Ich wünsche mir die Pluralität innergemeindlich und nicht in Form (gegeneinander abgeschlossener) Richtungsgemeinden, ich wünsche sie mir als Netzwerk mit Übergängen und Berührungspunkten.
Die beiden Tendenzen, die du siehst, gibt es sicherlich, aber ich würde sie weniger wertend formulieren und z.B. den Begriff „konsumieren“ nicht verwenden. Wer bei Gelegenheit z.B. in eine Kasualie involviert ist, konsumiert nicht Kirche, sondern ist Teil einer „Gemeinde“, wie du ja selbst im Blick auf eine „zusammengewürfelte Abdankungsgemeinde“ schreibst.
Da wäre die spannende Frage, was zu diesem Gefühl beitragen kann und wie wir die Rahmenbedingungen dafür günstig gestalten können. Wohl kaum, indem wir diese Teilnahme als Konsumverhalten labeln und insgeheim Zugehörigkeit und Dauer als eigentlichen Massstab vermitteln.
Nicht alle haben das Bedürfnis nach Nestwärme und Geborgenheit. Wer dieses Bedürfnis nicht hat, muss in unserer Kirche ebenfalls Platz haben. Du hast recht: „als Kirche muss man für alle Stufen von Zugehörigkeit und Dauer offen sein“ – aber das heisst: wir dürfen nicht unter der Hand die unterschiedlichen Beteiligungsformen dann doch mit relativ klaren Wertungen versehen.
THOMAS GROSSENBACHER
Gepostet um 20:48 Uhr, 01. FebruarWo leiten wir ab, was Gemeinde ist? Wir haben uns so daran gewöhnt, das Gemeinden örtliche Grössen sind ,,, oder waren. Der biblische Befund spannt einen weiteren Bogen.
Es geht doch um das Gerufen-sein aus dem sich eine Zugehörigkeit ergibt, Und diese ist weder mit örtlichen noch zeitlichen Kriterien zu fassen ist. Wir wollen immer alles fassen, eingrenzen. Ekklesia aber ist der Ruf aus all dem hinaus. Kirche lebt aus dem Herausgerufen-sein in diese Freiheit der Geistwirksamkeit bei der wir nicht sagen können „siehe hier, siehe da …“ Der Geist weht eh, wo er will. Der Ruf zur Zusammengehörigkeit, den wir leicht überhören ,,, die Zusammengehörigkeit, die wir oft nicht erkennen, weil sie weder mental noch physisch festlegbar, aber umso mehr erlebbar ist, Nichts lässt sich festhalten. Schon gar nicht behaupten. Was geschieht, wo Kirche keimt, ist so flüchtig wie Schallwellen eines Rufers.
Wir jedoch zählen die Häupter der Lieben, wie einst David die Streitkräfte seines Heeres. Das kann es doch nicht sein. Und im gleichen Atemzug muss ich gestehen, dass ich auch nicht sagen kann, was es denn ist. Sicher bin ich nur, dass es noch viel mehr ist, was da entsteht und vergeht und wieder aufersteht. als wir fassen können. Vertrauen, Verbindlichkeit von Hoffnung genährt, das sind Nährböden der Kirche. Da-sein füreinander. Zu-hören und geben was man hat. „Sei was du bist, gib, was du hast.“ So lautet die Pointe des Gedichtes von Rose Ausländer das so beginnt: „Wirf deine Angst in die Luft“ ,,, Kirche entsteht wie das Leben mit Loslassen. Das Leben ist nicht machbar. Unsere Aufgabe ist, das zu erspüren, was heute und jetzt lebt und Menschen zusammenfinden lässt. So vielfältig ist Kirche, so lebendig.
michael vogt
Gepostet um 13:48 Uhr, 02. Februar„richtet euch nicht nach dieser welt!“ (rm 12.2) ekklesia ist zuerst einmal schon die konnotation der aus der welt herausgerufenen. und parochie ist nicht die bezogenheit auf das weltganze, das ganze haus, sondern auf das eine haus gemeinde respektive das haus, in dem die gemeinde sich versammelt. das pneumatologische gemeinde- und kirchenverständnis bricht diese geschlossenheit auf. mehr als das christologische. ekklesia sind zuerst mal die, welche an christus glauben und im unterschied zu den andern nicht „ins verderben gehen“. „das sei ferne!“, wie paulus in anderem zusammenhang ausruft, aber, wenn man tiefer in seine schriften eindringt, auch in diesem zusammenhang: der sieg über den tod, die überwindung jeder trennung. „der geist erforscht alles, auch die tiefen gottes (1kor 2.10). weniger anfangen kann ich, seit ich vor 35 jahren das erste mal ein seminar „neue spriritualität“ besuchte, mit dem begriff der spiritualität. begriffe auf -tät sind meines wissens systembegriffe. die geistwirksamkeit gehört aber nicht zum system mensch, ist nicht wie intellektualität, emotionalität oder sexualität eine seiner oder ihrer eigenschaften. macht das unfassbare sich fassbar, wird es fassbar. die pneumatologische ekklesiologie ist aber eine möglichkeit darzutun, dass die kirche auch anthropologisch nicht aus sich selbst lebt, dass nicht nur sie den andern etwas zu sagen hat, sondern auch die andern ihr. bis das vollständig verstanden ist, braucht es aber noch manche redormation (drüber schlafen mit anschliessender traumdeutung) mit der konsequenz der aufhebung des gegensatzes von – in alphabetischer reihenfolge – kirche und welt.
Anonymous
Gepostet um 15:54 Uhr, 04. FebruarDanke, Seel-Sorge pur. Es weht zäntumen und fürbass weiter, auch nach bald zweituusig Jahren…