… aber reiss den Zaun nicht ein.

Auch mich hat, wie viele von uns, die #metoo – Debatte in den letzten Tagen und Wochen umgetrieben, irritiert und zur Reflexion angeregt. Ich habe mit vielen Freunden beiderlei Geschlechts darüber diskutiert und gestritten, im Versuch, das Phänomen irgendwie einzuordnen. Die vielen Berichte von Grenzüberschreitungen waren ein unerwartetes Blitzlichtgewitter. Ich war geblendet und habe unwillkürlich die Augen geschlossen. Immer, wenn das Thema aufkam, fühlte ich eine Art Klaustrophobie in mir aufsteigen, einen dicken Kloss im Hals. Nicht, weil ich Angst hatte, nicht mehr sagen zu dürfen, was ich will. Sondern weil ich mich vor dem sterilen Schweigen fürchtete, das angesichts einer offenbar notwendigerweise zu immer neuen Grenzüberschreitungen führenden Kommunikation drohend am Horizont auftauchte. Wenn die Respektierung der Ansprüche Anderer bedeutet, dass ich mich entscheiden muss, ob ich diese Anderen lieber verletze oder mich in eine isolierte Stille zurückziehe, dann erscheint die Delegitimierung der Ansprüche der Anderen unwillkürlich als Ausgang aus diesem Dilemma. Wenn ich die Anderen verächtlich mache, dann brauche ich mich nicht mehr um ihre Ansprüche zu kümmern. Aber dieser Ausgang aus dem Dilemma ist nur ein scheinbarer, weil er selbst wieder eine massive Grenzüberschreitung darstellt, weil er dem Verletzungsarm des Dilemmas angehört. Wer eine Grenzüberschreitung kommuniziert und dann dafür noch Kritik erntet, ist doppelt gedemütigt. Aber Schweigen ist auch keine Alternative, Schweigen ist in diesem Fall nur eine andere Form der Verachtung, ein Warten darauf, dass sich der Sturm legt, und wir wieder zur Tagesordnung übergehen können. Es handelt sich hier offenbar um eine jener Situationen, in denen wir nur anständig bleiben können, indem wir zuhören und zu verstehen versuchen.

Grenzen sind Ränder von Entitäten. Sie operieren mit räumlicher Differenz. Alles, was auf der einen Seite der Grenze ist, gehört dazu, alles, was jenseits der Grenze ist, gehört nicht dazu. Wozu? Zu dem, was die jeweilige Grenze als etwas konstituiert. Das lässt sich schon in der Wahrnehmung feststellen. Erst dasjenige, was unser Bewusstsein als etwas aus dem uniformen Strom der Eindrücke herauslöst, kann Gegenstand unserer Wahrnehmung werden. Dieses als etwas bedeutet Assimilation: das Unbekannte wird normalisiert, um es dem eigenen Erfahrungsystem eingliedern zu können, es wird zurechtgestutzt, passend gemacht, auf den Begriff gebracht. Wir nehmen etwas wahr, wir greifen etwas heraus, wir unterscheiden und wählen, und indem wir das tun, erschaffen wir in gewisser Weise das, was wir wahrnehmen. Wir nehmen uns etwas heraus, wenn wir etwas wahrnehmen. Aber wir nehmen eben auch etwas wahr. Unsere Möglichkeiten des Herausgreifens stossen ihrerseits an Grenzen, die wir nicht selbst setzen können. Wir können uns nicht alles herausnehmen, wir werden daran gehindert durch das, wovon unsere Eindrücke ausgehen. Das, was wir die Welt nennen, widersteht oft genug unseren epistemischen Aneignungsversuchen, und in solchen Fällen sind wir gezwungen, etwas als etwas anderes wahrnehmen zu lernen. Die scheiternde Assimilation wirkt auf uns zurück und fordert eine Anpassung und Erweiterung unseres Erfahrungssystems. Grenzen enstehen im Zusammenspiel zwischen Aneignungsversuch und Widerständigkeit, zwischen einem Ich und einem Nicht-Ich, und beides bedingt sich gegenseitig. Der Aneignungsversuch konstituiert die Widerständigkeit, und die Widerständigkeit macht die Suchbewegung zum Aneingnungsversuch. Differenz entsteht durch Konfrontation, durch das Aufeinanderprallen und Ineinanderfliessen von Ich und Nicht-Ich, durch deren gegenseitige Durchdringung, und dieser Vorgang verändert immer das Ich und das Nicht-Ich. Ich glaube deshalb, dass schon im ganz basalen Akt der Wahrnehmung ein gewisses Gewaltpotential steckt, wie die Begriffe anzeigen: Nehmen, Eignen, Dringen, Prallen, Fliessen. Wenn wir unser Erfahrungssystem nur durch gescheiterte Assimilationsversuche erweitern können, wenn uns nur die Widerständigkeit des Nicht-Ich dazulernen lässt, und wenn wir alles Nicht-Widerständige bedenkenlos assimilieren, also epistemisch aneignen, dann verliert das Wissen auf einmal seine Aureole der Neutralität. Vielleicht wäre dann bei jedem „Wissen über…“ immer auch an ein „Besetzen von…“ zu denken, an eine epistemische Kolonialisierung dessen, das nicht selbst zu Wort kommt, des Sprachlosen. Die Sprachlosigkeit wäre dann die bis an die Grenze der Indifferenz gesteigerte Ohnmacht, auf die nur noch die Übernahme der Sprache des kolonialisierenden Nicht-Ich folgen kann, die Übernahme der fremden, der unterwerfenden Sprache, und damit die Selbstunterwerfung unter das, was Andere über mich zu wissen behaupten.

Aber vielleicht muss das nicht so sein. Vielleicht können wir diesem kolonialisierenden Assimilieren schon an dessen Ursprung entgegenwirken, indem wir versuchen, unsere Besetzungen so weit wie möglich zurückzunehmen und die besetzten Erfahrungsinhalte freizugeben, und indem wir unsere Suchbewegung, unseren Assimilierungsdrang drosseln. Dafür müssen wir zulassen, dass Grenzen ausfransen und Konturen undeutlich werden, dazu müssen wir zwischen Ich und NichtIch einen Streifen Niemandsland offen lassen, auf dem eine gewaltfreie Begegnung möglich ist. Vielleicht würden wir durch dieses Freigeben sogar viel mehr Erkennen als das, was wir vorher wahrgenommen haben. Im zwischenmenschlichen Bereich bedarf das Freigeben einer Besetzung freilich eines komplementären Freigebens von Seiten des Besetzten, das nun seine eigene Sprache finden oder wiederfinden muss. Auf eine Dekolonialisierung folgt meist eine Phase der Unsicherheit und des Chaos, das gilt auch für epistemische Dekolonialisierungen. Vielleicht wird man sich der eigenen Sprachlosigkeit und damit der vergangenen Ohnmacht erst in dem Moment in ihrem ganzen Ausmass bewusst, in dem plötzlich auch die übernommene, besetzende Sprache nicht mehr zur Verfügung steht. Vielleicht ist in solchen Momenten ein Aufschrei die einzige Möglichkeit, endlich ganz und gar sich selbst zu artikulieren. Und für uns, die ein solcher Aufschrei erschreckt und überfordert, kann dieses Erschrecken eine kathartische Wirkung entfalten, und uns selbst in eine für uns möglicherweise heilsame temporäre Sprachlosigkeit hineinführen.

Das Gebot der Stunde scheint daher epistemische Dekolonialisierung in einem ersten und epistemische Epoché in einem zweiten Schritt zu sein. Denn wenn wir einander in lauter Prokrustesbetten stecken, wie sollten wir da angemessen miteinander kommunizieren können? Wie sollten wir einander nicht instrumentalisieren, wenn wir uns dauernd kategorisieren? Wie können wir erwarten, dass sich unsere epistemische Übergriffigkeit nicht immer und immer wieder auf viel drastischere Weise materialisiert? Ich glaube, dass gewaltfreies Kommunizieren voraussetzt, dass wir lernen, einander gewaltfrei zu erkennen, das heisst einander anzuerkennen. Das geht aber nur, wenn wir einander zu Wort kommen lassen und dann auch zuhören. Auch einem Schrei kann man zuhören. Dekolonialisierung und Epoché verlangen zunächst danach, dass wir lernen, gegenseitig unsere Grenzen anzuerkennen. Zuhören kann man nur einem Du das in seiner Alterität respektiert wird. Es ist wichtig, dass wir hier nicht allzu schnell weitergehen und sogleich die ganze Situation wieder in Wohlgefallen auflösen wollen. Aber wir dürfen auch darauf hoffen und darauf hinarbeiten, dass dieser Zustand nicht ewig anhält. Es ist nicht ausgemacht, dass Grenzüberschreitungen immer negativ und traumatisch sein müssen, obgleich sie es immer sein können und viel zu oft sind. Nicht jede Grenze ist ein Rubikon, und nicht jeder Grenzübertritt ist ein Kolonialisierungsversuch. Man kann Grenzen auch überschreiten um einander zu besuchen, zu beschenken, zu bestaunen, zu beglücken, zu begreifen. Vielleicht geht es letztlich einfach darum, dass wir lernen, uns im Umgang mit den Grenzen Anderer nicht wie Conquistadoren zu verhalten, sondern wie wohlwollende Nachbarn, angefangen bei der Art, wie wir übereinander sprechen, über die Art, wie wir miteinander sprechen, bis hin zur Art, wie wir aneinander handeln. Vielleicht sollten wir es einfach mit dem alten Sprichtwort halten: Liebe deinen Nachbarn, aber reiss den Zaun nicht ein.

Wenn wir lernen könnten, eine gemeinsame Sprache zu finden, und Grenzbereiche gemeinsam zu gestalten, dann könnte sich unsere Begrenztheit sogar als reizvoll erweisen, weil wir dann mit jedem Menschen, der an uns angrenzt, ein gemeinsames Projekt hätten, weil uns jeder Mensch schon dadurch anginge, dass wir eine Grenze mit ihm teilen, weil uns jeder Mensch durch diese Grenze zu demjenigen Nächsten würde, den zu Lieben uns nachdrücklich anempfohlen ist. Wenn wir das könnten, verschwände auch das klaustrophobische Gefühl angesichts all der vielen Grenzen, die uns umgeben, weil diese Grenzverläufe dann nicht zwangsläufig eiserne Vorhänge sein müssten. Sie könnten auch wundervolle Gestaltungsräume sein, in denen gemeinsam zu verweilen eine Freude wäre.

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6 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 07:36 Uhr, 24. November

    selbstbegrenzung erzeugt belohnungsmoleküle – wenn sie nicht selbstunterwerfung unter das kolonialisierende nicht-ich, dessen sprache und wissen, ist. es kommt aber der moment, wo die liebenden sich nicht mehr im zaum halten, sondern den zaun einreissen. zu recht.

    wem das alles zuviel ist, findet trost im schönen titelbild

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 09:17 Uhr, 24. November

    Lieber Nachbar Stucki
    Irgendwie ist mir der Zaun zu hoch, der zwischen mir und Ihnen liegt. So ist mir z.Bsp. schleierhaft, was Sie mit „Epoché“ meinen. Dass wir uns alle in einem Käfig epistemischer Gewalt bewegen ist mir klar. Gerade diese Erkenntnis sollte Sie jedoch davon abhalten, Grenzüberschreitungen zu verharmlosen; -gerade, wenn sie im Zwischenmenschlichen geschehen. Bei mir kommt Ihr Brückenschlag an, wie wenn der letzte Vers des Gedichtes „Sprache“, das Johannes Bobrowski 1963 geschrieben hat:

    Sprache
    Der Baum / größer als die Nacht / mit dem Atem der Talseen / mit dem Geflüster über / der Stille
    Die Steine / unter dem Fuß / die leuchtenden Adern / lange im Staub / für ewig
    Sprache / abgehetzt / mit dem müden Mund / auf dem endlosen Weg / zum Hause des Nachbarn

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 19:04 Uhr, 29. November

    Es wäre schön, von Ihnen eine erhellende Rückmeldung bez. ‚Epoche‘ o.ä. zu erhalten!

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 11:23 Uhr, 03. Dezember

    Wer sind Sie Lukas Stucki? Ich hoffe, dass bald ein Portrait mehr verreten wird …

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