Behalten und bewegen
Wenn ich meine Töchter – damals im Kindergartenalter – einkaufen schickte, mussten sie eine gefährliche Strasse überqueren, auf der die meisten Autos mit übersetzter Geschwindigkeit vorbeirasten und im übelsten Fall sogar das Rotlicht missachteten. Das war jedes Mal ein Abenteuer – und für mich eine Aufregung, bis sie gesund und wohlbehalten wieder zurück waren. Den Auftrag gab ich ihnen mündlich mit, denn lesen konnten sie noch nicht. Ich liess sie die einzelnen Teile so oft wiederholen, bis ich sicher war, dass sie sie behalten würden, dass die Worte sich gesetzt hatten. „Learning by heart“ heisst das Auswendiglernen auf englisch und – noch schöner – „prendre à coeur“ auf französisch. Ich bin noch immer überzeugt, dass es Menschen gut tut, sich etwas auf diese Weise zu Herzen zu nehmen, sich anzueignen und auf diese Weise zu bewahren. Das gilt auch für Gebete, Lieder, Gedichte.
Dann hüpften sie los. Das Geld fest in der Faust, die Stofftasche schlenkernd. So wurden die Worte – in diesem Fall lediglich die Artikel für den Einkauf – nicht nur bewahrt, sondern auch bewegt, durchgeschüttelt, neu sortiert.
Wie oft musste ich dann an die Maria aus Nazareth denken, von der der Evangelist Lukas ebenfalls beides erzählt: „Maria aber behielt alles diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ (Lk 2,19) So endet die uns vertraute Weihnachtsgeschichte, während die Hirten sich aufmachen, von dem zu erzählen, was sie erlebt haben. Und ich stelle mir vor, wie Maria sich die Worte wieder und wieder aufsagt, sie memoriert und verinnerlicht, um sie nur ja nie zu vergessen und sie gleichzeitig hin und her zu drehen und zu wenden, von allen Seiten zu betrachten, nur ja keinen Bedeutungsaspekt auslassend, auf der Suche nach dem bisher noch Verborgenen …
Überraschenderweise bringt der Evangelist Lukas Maria immer wieder mit dem einen oder anderen Wortgebrauch in Verbindung: Als sie den zwölfjährigen Sohn im Tempel findet, heisst es, die Eltern hätten nicht verstanden, was er ihnen erklärte. Doch „seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.“ (Lk 2,51). Doch damit nicht genug. Als viel später eine Frau Jesu Mutter seligsprechen will, bestätigt und korrigiert Jesus diese Frau gleichzeitig mit dem Hinweis auf eben diese Haltung dem Wort Gottes gegenüber: „Selig vielmehr, die das Wort Gottes hören und bewahren.“ (Lk 11,28)
In der Tat kann Jesu Mutter selig genannt werden. Jedoch nicht deshalb, weil sie Jesus geboren und gestillt hat, sondern weil sie das Wort Gottes verinnerlicht hat.
Das ist für mich Advent: mir diese Frau aus Nazareth zum Vorbild zu nehmen, und alle diese Worte zu Herzen zu nehmen, wo sie bewahrt und gleichzeitig um und um gewendet werden. Ich will Sinn und Absicht dieser Worte begreifen, sie auf Herz und Nieren prüfen, ihnen eine Bedeutung abringen, bis ich mit ihnen leben kann: bewegt und bewahrt. Übrigens: für jüdisches Denken ist das Herz der Sitz des Verstandes. Es geht also zuerst um das Verstehen und Begreifen, bevor es um Emotionen geht!
Felix Geering
Gepostet um 12:27 Uhr, 04. DezemberMaria liess das Wort Gottes in sich drin lebendig werden, und zwar auf eine handfeste, materielle, „fleischige“ Art. Das finde ich mega spannend an der Bibel und am Land der Bibel: Viele (die meisten) Aussagen haben einen geistlichen Gehalt, der uns meist geläufig ist, und auch einen ganz handfesten, materiellen Gehalt mit „Fleisch dran“.
Anderes Beispiel: Jesaja: „Macht eine gerade Strasse, reisst die Berge ein, füllt die Täler auf, denn der Herr kommt!“ In Händels Messias ist die gerade Strasse ein „Highway“. Und was wohl kann man sehen, wenn man heute Israel besucht? – Autobahnbau durch die Hügellandschaft Judäas, die praktische, materielle Seite der Jesaja-Stelle.
Taube hören, Blinde sehen, Lahme gehen: Das sind Aspekte des Reiches Gottes. Und wie sieht das praktisch aus? – Die Medizin hat in den letzten 200 Jahren Gewaltiges erreicht. Ich finde: Aus der Sicht der Zeitgenossen Jesu ist die Prophezeihung heute erfüllt; Taube haben Hörhilfen, Blinde werden operiert oder bekommen Sehhilfen, Lahme bekommen Mobilitätshilfen. Diese Menschen sind zwar nicht „heil“ im Sinne von umversehrt. Aber die Hilfsmittel ermöglichen eine sehr weitgehende Integration in die Gesellschaft. Das war zur Zeit Jesu erst eine Utopie.
Vielleicht sind wir dem Reich Gottes heute näher als wir uns bewusst sind.
Felix Geering
Gepostet um 12:36 Uhr, 04. Dezember…um den Bogen zu schliessen:
Maria liess das Wort Gottes in sich drin lebendig werden, einerseits geistig, anderseits fleischig.
Wie/wo lasse ICH Gottes Wort in mir drin lebendig werden?
angelawaeffler
Gepostet um 22:57 Uhr, 04. DezemberNun überlege ich schon länger, worin für mich der Unterschied besteht zwischen „Worte behalten und im Herz bewegen“ und „in sich drin lebendig werden lassen“. Ich versuche es folgendermassen zu benennen: „Worte behalten“ – dafür kann ich einiges tun. Ich kann sie mir zu Herzen nehmen, kann sie memorieren, wieder und wieder sprechen, bis ich sie mir angeeignet habe. Das hat mit Übung zu tun. „im Herz bewegen“ kann ich ebenfalls als aktives Tun gestalten: ich kann die Worte von allen Seiten betrachten, sie prüfen und für gut befinden oder zur Seite legen, ich kann sie meditieren, durchdenken, diskutieren, so dass sie auf möglichst vielfältige Weise in Bewegung kommen. Und ich kann mich bemühen, sie so in Bewegung zu behalten, dass sie nicht erstarren, nicht zu Worthülsen werden …
doch dass die Worte lebendig werden, dass kann ich nicht machen: das ist ein unverfügbares Geschenk.
Vielleicht zucke ich drum über die Formulierung „Gottes Wort in mir lebendig werden lassen“ zusammen: es bleibt doch ein Unterschied zwischen dem, was ich tun kann und was Gott tut.
Felix Geering
Gepostet um 08:32 Uhr, 05. DezemberEinverstanden: Beim Einen kann ich Vieles beitragen, beim Anderen Weniges.
Und doch… sind es doch eigentlich die zwei Seiten der selben Medaille, oder nicht? Indem ich Gottes Wort mir zu Herzen nehme, bewege, „wiederkäue“, lässt Er es in mir lebendig werden.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 15:58 Uhr, 08. DezemberDas Reich Gottes wäre eine gerechtere Welt; -nicht nur, dass lahme gehen, Taube hören, Blinde sehen. Und passend zur Weihnachtszeit:
Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.
Angelus Silesius
(1624 – 1677), (Schlesischer Engel) eigentlich Johannes Scheffler, deutscher Arzt, Priester und Dichter
Felix Geering
Gepostet um 20:10 Uhr, 08. DezemberAber die Welt IST eine gerechtere als zur Zeit Jesu. Davon profitieren nicht zuletzt Sie als Frau – und dies völlig zu Recht – und icb als einfacher Arbeiter übrigens auch.
Natürlich ist noch viel zu tun. Aber ich freue mich auch an dem, was bereits da ist. Und das ist nicht wenig.
Um es mit dem Tagi zu sagen: „Wir bleiben dran.“ Eben gerade weil Christus in uns geboren werden will, sofern wir ihn lassen.
Verena Thalmann
Gepostet um 17:19 Uhr, 04. DezemberBerührend und bewegend, sind mir all diese Gedanken zum Thema „Behalten und Bewegen“ im Herz angekommen! Neue Seiten dieser Maria und auch von der Intensität wiederholter Worte, die in verschieden Situationen immer wieder neu gewichtet werden. Es scheint mir eine Weisheit zu sein, die mir neu aus der Bibel angenehm entgegen kommt. Zudem hat mich auch das Bild über dem Text „angefasst“ und einen mutmachenden, vorweihnachtlichen Gruss geschenkt. Danke also von Herzen 🙂