«Carpe Diem» – Die Pizza der Erkenntnis
Zwei Tage vor Weihnachten 2016 ist unser Elternhaus und mit ihm das Schuhmachergeschäft meines Vaters ein Raub der Flammen geworden. Das Lebenswerk eines Mannes, der vor genau 50 Jahren mit nichts als einem kleinen Koffer aus Süditalien hergereist ist, vollständig zerstört. Eine Ruine. Trotzdem bin ich zwei Monate später nach dem Gröbsten für ein paar Tage wieder nach Süditalien – nach Hause – gereist. Wer den Boden unter den Füssen verliert, findet vielleicht bei seinen Wurzeln Halt. Frei nach Goethe einmal mehr: Das Land der Väter mit der Seele suchend. Und schliesslich wartet Christus auf weitere Entdeckungen in dieser Gegend.
In der Stille der Geschichte
Schweigend schreite ich mit Christus eine steile Strasse in Pomarico hinauf. Abgenutzte Steine unter unseren Schuhen, Spuren ungezählter Schritte von Menschen, die hier selbstverständlich seit dem frühesten Mittelalter inmitten ihrer Geschichte gelebt haben. Vergangenheit und Gegenwart waren seit Jahrhunderten auf diesem Hügel immer eins. Abbruch, Durchbrüche, Zumauern, Anbauen, kurz: lebendiges Gemäuer auf antiken Fundamenten. Ein scharfer Wind pfeift durch die Gassen. Man hört klappernde Läden und lose Türen, mal scheppert etwas Metallisches. Sonst herrscht gespenstige Stille, und das mitten am Tag. Ich bin immer wieder beeindruckt und bedrückt gleichermassen darüber, wie verlassen mittlerweile das historische Zentrum unseres Dorfes ist. Immer mehr verrammelte Eingänge, vor denen noch vor kurzem alte Menschen auf ihren geflochtenen Stühlen sassen und sich ein Lüftchen in der Hitze zugefächelt haben, sich gegenseitig die News zugehalten und Stammbäume memoriert haben, wenn sie über andere Leute sprachen. Und das taten sie immer.
Hie und da spähe ich ins staubige Dunkel hinter einer eingedrückten Türe. Die Natur erobert sich nach und nach das von ihr Abgerungene zurück. Ich bleibe vor einem Haus stehen, dessen Dach eingestürzt ist. Zu Vaters Jugendzeit haben hier noch Menschen gelebt. Aus dem einzigen Wohnraum, in dem gekocht und geschlafen wurde, wächst neben anderem Kraut nun ein Feigenbaum heraus.
Ruinen – Zeugen des Fortschritts
Unterdessen haben wir uns ins Restaurant gesetzt. Ich bestelle eine «Quattro Stagioni» – Vier Jahreszeiten. Wartend sinniere ich über den Spaziergang durch das alte Dorf. – Man besucht archäologische Stätten und erahnt die Vergangenheit, hier sieht man das Geschichte-Werden förmlich gedeihen: Innerhalb weniger Jahre kann man die Ruinenbildung beobachten. Und ehe man es sich versieht – gerade weil ein Teil des kollektiven Gedächtnisses, das die Mauern beseelt hatte, noch lebt – wird man sich der eigenen Vergänglichkeit und der Vorläufigkeit menschlichen Tuns bewusst. Vielleicht fällt es mir angesichts der jüngsten Vorkommnisse noch stärker auf und es berührt mich sehr, an einem Ort zu sein, von welchem Menschen schon seit langer Zeit immer wieder im Sog der ökonomischen und kulturellen Konjunkturen, unter dem Eindruck von Fortschritt und Erfolg abgewandert sind, Schmerz und Hoffnung gleichermassen im Gepäck. Doch nie im Mass wie in den letzten Jahrzehnten. Der Fortschritt löst Kreisläufe auf, plötzlich wird die Zeit ausschliesslich linear wahrgenommen – und es braucht Geld. Alles andere funktioniert nicht mehr. Was andernorts längst geschehen, holt die Menschen hier schneller ein: In Vaters Jugend war angesichts grosser Armut Tauschwirtschaft und Nachbarschaftshilfe der Normalfall. Nun bebauen die meisten ihr Land nicht mehr, sondern arbeiten für andere – wenn überhaupt. Bodenlos. Was bleibt, ist Nostalgie. Sogar dann, wenn wir vor der ebenso verriegelten Behausung stehen, in der mein Vater aufgewachsen ist. Ein Raum, ein Tisch, ein grosser Teller für alle, Bänke, zwei Betten für zwei Familien ohne Väter, eine Sau am Kamin und die Hühner unter dem Bett. Leben will verständlicherweise heute niemand mehr so. Die Abwanderung war für viele auch eine Befreiung aus dem ganzen Korsett von Traditionen und Sozialkontrolle. So ging es auch um Selbstverwirklichung, die Sehnsucht, als Individuum über sich hinauszuwachsen, doch waren das Motiv im eigentlichen Sinne des Wortes doch die Arbeit, Fortschritt und Erfolg die Masseinheiten. – Mit seiner Abreise als sechzehnjähriger Jüngling hat das Lebenswerk meines Vaters begonnen. Doch, wusste er das, als er sich hier ein letztes Mal zur weinenden Mutter am Eingang dieses Hauses umgedreht hat?
Wo fängt es an?
Die Pizza wird geliefert. Vier Jahreszeiten – noch nie kam mir diese Speise so symbolisch vor: Das Leben liegt vor einem, duftend und zum Greifen nah, doch wo soll man beginnen? Alles scheint sich im Kreis zu drehen, immer wieder von vorn. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Bis der erste Schnitt getan ist; der «Fort-Schnitt». Vier Jahreszeiten – auch der venezianische Komponist Antonio Vivaldi hat seine Wurzeln in unserem Dorf. Wer hätte das gedacht. Sein Grossvater mütterlicherseits war ein Schneider, der von hier nordwärts gezogen war. Das Lebenswerk des Enkels ist bekannt. Grossvater Camillo ging um ein Haar vergessen, und doch hat wohl er von allen das grösste Opfer gebracht.
Eigentlich weiss ich nicht so recht, was ein Lebenswerk ist. Weiss jemand, der sein Bündel schnürt, dass er am Anfang eines Lebenswerkes steht? Ab wann spricht man von einem Lebenswerk? Darf sich mein Vater in die Reihe solcher Namen, darunter etwa auch Regisseur Francis Ford Coppola (Bernalda), stellen? Besonders nun, da er von vorne beginnen muss? – Haben sich nicht viele Auswanderer/innen vielleicht sogar Vorwürfe gemacht, dass sie gegangen sind, wenn sie in ihren Ferien sehen, was aus ihrem Dorf geworden ist, und jede Rückreise mit so vielen Tränen verbunden war? Auch der Vater des Restaurantbesitzers ist im Thurgau verstorben – auch er wollte nicht bleiben.
Heute leben wohl mehr Menschen mit Wurzeln in der Basilicata in aller Welt verstreut als im dünn besiedelten Ursprungsland selbst. Man wundert sich über die Entdeckungen, wer direkt oder indirekt von hier stammt. So war ich 2014 mitten in der jubelnden Menge, als der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio in Grassano die Herzen gewann, indem er gleich zu Beginn seiner Rede im einzigen italienisch gesprochenen Satz davon schwärmte, wie schön es sei, wieder zu Hause zu sein. Worin soll oder wird sein Lebenswerk bestehen? Klar ist: Er hat über seine Mutter sicher nur eine leise Ahnung davon, was es bedeutete, zur Zeit seiner Grossmutter hier zu Hause zu sein. Reisende waren entsetzt über das Elend, das in diesem Land damals herrschte. Was dies zur Zeit von Vivaldis Grossvater bedeutete, lässt sich ja nur ahnen. Vermutlich ist gerade die Tomate im Süden heimisch geworden.
Ein Tropfen Weisheit: «sapere aude»
Christus schenkt den Wein ein. Aglianico, diese antike Traube aus der Basilicata. «Der Wein stammt aus dem Vulture-Gebiet. Sag, kommt dir da nicht ein weiterer ‹Bürger› der Basilicata, des einstigen Lukaniens, in den Sinn bei diesem Tropfen?» – «Ja, Horaz, der Dichter aus Venosa!». Natürlich: «Carpe diem» – «Nutze den Tag!»
«Pflücke den Tag», erwidert Christus korrigierend. «Man vergisst oft, dass der Vers noch weiter geht: ‹… und vertraue möglichst wenig auf den nächsten.› – In Süditalien wusste man schon immer, dass es angesichts der unbeständigen Naturgewalten sowie der Natur der Menschen und insbesondere Politiker und Institutionen kaum Garantien innerhalb der gezählten Lebenstage gibt. Fortschritt und Erfolg sind fragile Gebilde. Schnell ist man ruiniert. Das hat der römische Dichter und Politiker am eigenen Leib erfahren und hat dies schon vor den Denkern des Barock, der Zeit Vivaldis, betont. Horaz hat sich stark auf den Genuss des Augenblicks besonnen. Denke daran, wie oft auch ich gesagt habe, dass das Sorgenmachen nichts bringt. Horaz bevorzugte am Ende seiner Karriere das otium – die Musse – vor dem negotium – der Arbeit (eigentlich: Nicht-Musse).»
«Damit ist aber nicht das reine Nichtstun gemeint», denke ich laut, «Horaz hat sich nur vom politischen Ehrgeiz befreit. Ich habe von Horaz noch einen anderen Vers im Kopf, der darauf hindeutet, dass man das Leben für den Gewinn an Lebensweisheit nutzen soll und damit sehr wohl auch in die Zukunft denkt: ‹Sapere aude› – ‹Wage es, weise zu sein!› Noch vor der Aufklärung, noch vor Kant, wird das in Basilicata ausgesprochen.» – «Stimmt», erwidert Christus. «Etwas aus dir zu machen, ist der Erfolg, dein Fortschritt, den dir niemand nehmen kann. Der ganze Vers lautet: ‹Die Hälfte der Tat hat geleistet, wer angefangen hat; wage es, weise zu sein. Fang an!›»
Lebenswerk ist Bewegung und Reformation
«Sapere heisst wohl wissen und in der zitierten Wendung unseres Horatius übertragen wagen», sprudelt es nun aus mir heraus, «aber was mich gerade besonders erfreut: sapere heisst genauso schmecken, riechen. – Lass uns also nun die Pizza schmecken – nicht wahr, ein Lebenswerk schmeckt! Ein Lebenswerk misst sich nicht an erbauten Häusern, sondern an dem, was Menschen mit ihrem Tun über das Materielle hinausweisend erreichen und bewegen. Immer wieder neu. Ruinen können eine Reformation erfahren: Es ist paradox, aber die hiesigen Ruinen deuten darauf hin, dass andernorts etwas entstanden ist. Und siehe, dein Vater hat etwas gewagt, sehr viel gearbeitet und mit seinem negozio, was Italienisch heute Geschäft heisst, viel erreicht. Nicht zuletzt darum, weil er es auch geschafft hat, otium und negotium zu vereinen. Er hat nicht nur aus Pflicht gearbeitet, sondern sein Schuhmacher-Werk mit Leidenschaft verfolgt.» – «Und damit haben wir auch noch Goethe nach Süditalien eingeladen», kommt es mir lachend in den Sinn. «In seiner Iphigenie auf Tauris lesen wir vom Menschheitsideal, das auf der Idee beruht, dass man sich in einer Harmonie von Pflicht und Neigung stets verbessern soll.» – «Richtig, erwidert Christus. «Das hat die Menschen bewegt und ist das Kapital, das es deinem Vater ermöglicht, wieder etwas zu herzurichten. – Denk an den Lebensbaum, den Feigenbaum: Nutze die Gelegenheit, carpe, aus den Ruinen Neues zu erschaffen. Fangt an, und die Hälfte der Tat ist schon getan!»
Wini Schäfer
Gepostet um 07:56 Uhr, 03. MärzLieber Michael
Deine Meditation hat mich wieder sehr berührt.
Fortschnitt löst Kreisläufe auf.
Das gilt auch für die Pizza mit dem Kreuz.
Wie verhalten wir uns weise?
Haben oder Sein?
Wo ist unser Zuhause?
Eine Frage die auch mich zu beschäftigen beginnt, zusammen mit meiner Frau.
Was nehmen wir mit?
Einen ganz lieben Gruss aus dem Sonnenaufgang irgendwo bei den carciofi
und
doch schon die pomodori erahnend.
Wini
MIchael Mente
Gepostet um 08:34 Uhr, 03. MärzLieber Wini
Vielen herzlichen Dank für deine Gedanken zum Sonnenaufgang. Lass uns doch einmal diesseitig der Alpen gemeinsam meditieren.
Herzlich, Michael
Verena Thalmann
Gepostet um 09:46 Uhr, 03. März……bin sehr berührt von diesem Text!
Wer etwas verloren hat, um etwas trauert, weiter lebt und fühlt; lernt zu staunen, zu sehen und phantasievoll ( in einem guten Sinn kindlich) das Leben wahrzunehmen.
Wenn das nicht etwas mit Gotteserfahrung zu tun hat – was denn sonst?
Peter Winiger
Gepostet um 10:20 Uhr, 03. MärzVielen Dank, Herr Mente, für Ihren schönen Text!
michael vogt
Gepostet um 23:42 Uhr, 03. Märzvergangenheit und gegenwart eins – gefällt mir besser als „in der gegenwart leben“
Anita Ochsner
Gepostet um 14:14 Uhr, 04. MärzLieber Herr Mente
… und jetzt ist sie schon da! 🙂
Ich finde es sehr schön, wie Sie da nach Wurzeln suchend durch Ihr Heimatdorf schreiten, und nicht allein. Pomarico.
Wie eindrücklich dieses Dorf! – die Steinhäuser fast ein wenig spiralförmig angereiht – auf diesem Hügel liegt. (Die Kirche ist da mitten im Dorf und noch gar darüber erhoben 😉 ). (Hab mal auf Coogle Earth „angeschaut“)
ein Beitrag voller Bilder und Düfte, der eigene Bilder und Düfte und Empfindungen weckt, in mir aus einer „Heimat“ die nie meine wurde. Nie so gedacht war, dass wir Kinder mit dieser alten Heimat verbunden sein sollen. Oder es war ganz einfach nicht möglich. Doch dieser Text lässt mich erinnern, und ich rieche und spüre wieder die lehmige Erde, staubtrocken in meinen Händen vor langer Zeit, und gleichsam erinnere ich mich an überwucherte eingefallene Häuser, die als solche nur mehr schwer zu erkennen waren, einmal in den Ferien.
So sind Wurzeln für mich „nur“ hier im „neuen“ Land. Das damals, nach dem 2. Weltkrieg, neue Land meines Vaters. Ein Same setzen im Neuen, für sich selbst und alle Nach-Kommenden, wenn ich danach frage, was denn ein Lebenswerk sein kann? Sehe ich das als ein Lebenswerk an. Das weitergeht durch uns zu unseren Kindern.. das wohl fruchtet, wenn ich sie darin sehe wie sie leben und reden.
Ist auch die Erde von Pomarico eine lehmige? Wie es da wohl riecht?
Es gefällt mir wie Sie sagen: „Wer den Boden unter den Füssen verliert, findet vielleicht bei seinen Wurzeln Halt.“ – Was gibt uns Wurzeln? Jeder Mensch braucht sie doch und muss sie, allenfalls neu, finden. Für mich die Wälder, der Berg mit seiner ganzen Strahlekraft an manchen Tagen, die Linth (ist auch Jahreszeiten abhängig wohin „es“ mich führt 😉 Quattro Stagionimässig) die Traditionen, Tätigkeiten, das Alltägliche, die Arbeit, das Dorf die Behausung und die Menschen, es braucht auch die Menschen sonst sind Heimat und Wurzeln doch niemals ganz ? und Frieden und finanzielle Sicherheit. (wieviel braucht der Mensch?) – und alles was sich Ihnen daraus erschliesst… „aus der Stille der Geschichte“.
Und jetzt – Ihr habt angefangen!
Mir scheint, aus einem weitverzweigten tiefgreifenden lebendig gehaltenen Wurzelwerk heraus schöpfend.
Dazu kam mir ein Bild : Wenn ein Baum ein tiefes verzweigtes Wurzelwerk hat, und ein Teil der Wurzeln wird verletzt, nährt und hält das „Alte“ den Baum weiter, und es wachsen neue Wurzeln, zu neuen Verbindungen
…und die Geschichte: „Der fünfte Berg“, da wird eine Stadt neu aufgebaut, mit Hilfe der Kinder „…die keine Vergangenheit kennen…“ und von den Alten; von Paulo Coelho.
Den schönen Worten und Dank`s zu diesem Beitrag schliesse ich mich sehr gerne an!
Marco
Gepostet um 23:20 Uhr, 09. MärzÜber mit 16 auswandernde Väter, Coppolas Grossmutter, welche eine echte Giaquinto war, und Aglianico als Trubensorte sollten wir uns dringend unterhalten. Danke für den Beitrag …
Heb Sorg