Der Pfarrer in der Esoterikabteilung

An einer Tagung gestand mir einmal ein Pfarrer, dass er im Buchladen gerne in der Esoterikabteilung schmökere und spannendere Sachen finde als unter „Religion“. Doch dürfe er das nicht laut sagen. Kirchlicherseits bestehen grosse Berührungsängste, was gewisse Themen angeht.

Es kommt selten vor, dass sich Theologen VORURTEILSLOS mit Nahtoderlebnissen, Sterbebettvisionen, Spontanheilungen, Vorahnungen, Telepathie oder Geistererscheinungen befassen. Traditionellerweise wird das alles entweder ignoriert oder in den Bereich des Aberglaubens verbannt oder thematisiert und dann dogmatisch als irrelevant abgetan.

Für letzteres gibt es viele Beispiele: Man nimmt sich etwa der Nahtoderlebnisse an, rezipiert Meinungen zu ihrem „Wahrheitsgehalt“, pro & contra , um am Ende festzustellen, dass die Bibel kein Weiterleben der Seele postuliert und das Thema für Christen somit unerheblich ist. Die Theologie überlässt  das Feld der Wissenschaft, den Esoterikern oder anderen Religionen. Vor allem geht sie auf das grosse Interesse vieler Menschen nicht ein. Buchläden widerspiegeln sehr treffend die geistige Grosswetterlage. Es verwundert nicht, dass das Regal „Religion“ ein Meter lang ist, die Abteilung „Esoterik“ aber fünf mal mehr Titel umfasst.

In einer immer stärker von Technik und Materialismus bestimmten Welt steigt das Bedürfnis nach Geistigem. Nur stillen ihn die Menschen immer weniger mit traditioneller Religiosität, sprich: mit Kirchgang und Gemeindeleben. Sogar dort, wo der christliche Rahmen beibehalten wird, findet eine Verschiebung statt. Unter den christlichen Bestsellerautoren finden sich immer mehr solche, die sich mit Mystik und Meditation befassen; Anselm Grün, Willigis Jäger, Richard Rohr und Konsorten. Viele dieser Autoren haben m.E. deshalb regen Zuspruch, weil sie das Feld der Religiosität weiten. Sie sind offen: Für psychologische Erklärungen, für Anleihen aus östlicher Spiritualität, für Phänomene, die noch nicht erklärbar sind, aber menschlichen Erfahrungen entsprechen. Sie betreiben keinen Dogmatismus, obwohl sie Dogmen und Bibel sehr gut kennen.

Dogmatismus hingegen ist es, sich gewissen Themen zu verschliessen, nur weil die Bibel nichts davon weiss oder die theologische Tradition Vorgaben macht, welche keine echten Fragen zulässt, da sie die Antwort bereits zu kennen glaubt. Anders gesagt, wenn die Landkarte nicht mit der Landschaft übereinstimmt, vertraut der Dogmatiker lieber der Landkarte. Wenn aber viele Menschen „übersinnliche“ oder mystische Erfahrungen machen, müsste man vorurteilslos diese Erfahrungen analysieren und sie mit der Tradition vergleichen. Vielleicht ist die Landkarte zu revidieren, d.h. das Bibel- und Dogmenverständnis.

Die Altersarbeiterin in meiner alten Gemeinde erlebte immer wieder, dass frisch Verwitwete oft von Erscheinungen ihrer verstorbenen Gatten berichteten. Sie getrauten sich  kaum, davon zu erzählen. Nach einer bestimmten Zeit hörte das Phänomen auf. Erinnert das nicht an die Visionen des Auferstandenen? Doch eine christliche Sprache für das Erleben dieser Frauen hat sich noch nicht gebildet. Zumindest nicht im dogmatischen Mainstream.

Aber an den Rändern, da passiert Spannendes

1997 erschien das Buch „Parapsychology, Philosophy & Spirituality“ des amerikanischen Theologen David Ray Griffin. Es dokumentierte Hunderte Fälle von Erscheinungen. Frappant sind Berichte von Verwandten, die „wussten“, wann ihren Angehörigen in der Ferne etwas zugestossen war oder sie an der Front gefallen waren. Von der Theologin und Sterbebegleiterin Monika Renz finden sich ebenso spannende Bücher wie vom ehemaligen Superintendenten Herbert Koch,  der letztes Jahr mit „Gott wohnt in einem Lichte“ das erste deutschsprachige Buch vorgelegt hat, das sich von theologischer Seite mit dem Thema Nahtoderfahrungen unvoreingenommen auseinandersetzt. Es scheint Phänomene zu geben, die weder rein objektiv noch rein psychologisch-subjektiv zu erklären sind, sondern irgend einen Bereich dazwischen oder darüber hinaus berühren.

Jeder Theologe wird den Satz unterschreiben, dass die leibliche und die geistige Welt näher bei einander liegen, als die Schulweisheit erklären kann. Doch neuere Forschungen im Bereich Gehirn und Geist brauchen dazu keinen religiösen Überbau. Die Universität Princeton unterhält beispielsweise das Global Consciousness Projekt, das den Einfluss geistiger Zustände auf Zufallsgeneratoren untersucht. Die Resultate sind erstaunlich.

Auf der anderen Seite entdecken Naturwissenschaftler Korrelationen zwischen biblischen Vorstellungen und Konzepten der neueren Quantenphysik (vgl. Markolf H. Niemz: „Bin ich, wenn ich nicht mehr bin? Ein Physiker entschlüsselt die Ewigkeit“ oder H.-R. Stadelmann „Im Herzen der Materie. Glauben im Zeitalter der Naturwissenschaften“).

Für aufgeschlossene Theologen/Theologinnen tut sich da eine ganze Schatztruhe auf. Es geht nicht darum, alle diese Theorien  theologisch zu adeln. Aber sie zuerst einmal überhaupt wahrzunehmen, würde das theologische Spektrum weit öffnen. Und vielleicht würden solche Themen in der Kirche mehr Menschen ansprechen als der hundertste Vortrag zu Karl Barth.

 

Diesen Beitrag fand ich...
  • wichtig (34)
  • inspirierend (27)
  • fundiert (14)
  • frech (3)
  • berührend (2)
  • langweilig (1)
  • falsch (3)
  • schlecht (3)
  • lustig (2)
18 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 06:21 Uhr, 30. März

    Bruno – ich danke dir! ?? Dass sich die religiöse (und menschliche) Landschaft doch bitte der theologischen Landkarte – übrigens nicht gleichbedeutend schon nur mit der Fülle der biblischen Schriften – anpassen soll, darunter habe ich bereits im Studium kräftig gelitten. Ein bisserl anders war zum Glück immer schon die Seelsorge – und heute die Religionswissenschaften, die ich in meinem letztjährigen Sabbatical an der Uni als höchst spannend und inspirierend erlebte. Schöns Tägli allerseits! ?☀️

    12

    2
    Antworten
    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 08:47 Uhr, 30. März

      Gerade die Religionswissenschften, bzw. meine Kenntnisse über transreligiöse Phänomene und deren Deutung in verschiedenen Weisheitstraditionen ermöglichen mir, meinen Blick zu weiten und Erfahrungen bei mir und anderen zuzulassen, welche sich jeglicher Dogmatik etc. entziehen.

      3

      1
      Antworten
    • Bruno Amatruda
      Gepostet um 13:48 Uhr, 30. März

      Es ist klar, die Leute an der „Front“, die Seelsorgenden, die kommen eben mit dem realen Leben in Kontakt. Das Paradoxe ist, dass sie von der Dogmatik aus betrachtet, am „Rand“ sich bewegen, während sie doch in der Mitte des Lebens arbeiten. Deshalb frage ich mich schon seit Studienzeiten, ob das Problem der Theologie nicht darin besteht, das ihr Zentrum (die Systematische Theologie) eigentlich am Rand des realen Lebens der realen Menschen steht.

      6

      1
      Antworten
  • Urs Meier
    Gepostet um 07:53 Uhr, 30. März

    Das ist doch alles längst landeskirchlicher Mainstream. Wer hält denn noch Vorträge über Karl Barth?

    4

    12
    Antworten
    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 08:07 Uhr, 30. März

      Doch, doch: Näches Jahr steht in unserer Gemeinde wieder einmal ein aolcher auf dem Programm!

      7

      0
      Antworten
    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 09:50 Uhr, 04. April

      Geplant ist ein Anlass zum 50. Todestag von Karl Barth und zu 100 Jahre Ende des 1. Weltkriegs am Bettag, dem 16. Sept. 2018 in Zürich. Der Arbeitstitel lautet: „Mit Karl Barth etwas zum Frieden sagen.“

      0

      0
      Antworten
  • Claudia Mehl
    Gepostet um 08:40 Uhr, 30. März

    Danke für diesen Artikel. Ich muss gestehen, auch ich riskiere ab und zu in diversen Buchhandlungen Seitemblicke in die Esoterikabteilungen, wenngleich ich bei dem Begriff ‚Esotherik‘ sehr vorsichtig bin. So habe ich den Eindruck, dass unter diesem ‚Label‘ oftmals halb- oder pseudowissenschaftliche Ansichten als hochwissenschaftlich und absolut verkauft werden.

    Mein halb spassog und halb ernst gemeinter Vorschlag vor 3 Jahren in meinem Theologiestudium, Mathe, Physik oder Biologie als Pflichtwahlfächer anzubieten, stiess bei den Mitstudierenden leider auf Unverständnis und Ablehnung. Schade eigentlich. ETH-Stdierende der Ing- und Naturwissenschaften müssen z.B. während ihres Studium 30 Punkte in geisteswissenschaftlichen Fächern absolvieren. Ich finde das gut. Warum nicht auch anders herum?

    Die modernen Neurowissenschaften z.B. stellen den Begriff ‚Emaprhie‘ und ‚Barmherzigkeit‘ in ein neues, aktuelles Licht (vgl. Tanja Singer, Joachim Bauer, Rizzolatti und Gallese, etc.). Auch die Tatsache, dass Masse eine Form der Energie ist (Einstein) ist ja hochinteressant. Nicht wenige Naturwissenschaftler bezeichnen sich als sehr religiös.

    Der Austausch zwischen Theologie und Naturwissenschaft war immer wichtig und wird es auch bleiben. Sie dürfen sich aber nicht gegenseitig ausspielen. Für mich sind beide Disziplinen gleichberechtigt und jeweils ein anderer Zugang, die Welt zu verstehen.

    11

    0
    Antworten
    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 08:50 Uhr, 30. März

      Ja genau liebe Frau Mehl: Obwohl ich in der Kanti schlecht war in Mathematik und Physik, habe ich von da Einiges an Kenntnissen mitgenommen und mir auch eine gewisse Neugierde bewahrt, diese Wissensbereiche relevant zu halten für mein Welt- und Glaubenssystem. So habe ich mich schon mit QUantenphysik befasst und mit AutorInnen, die Sie eben erwähnt haben.

      8

      1
      Antworten
      • Barbara Oberholzer
        Gepostet um 13:08 Uhr, 30. März

        PfarrerInnen können auch NaturwissenschaftlerInnen heiraten so wie ich ?. Weitet den Horizont ungemein.

        9

        0
        Antworten
        • Claudia Mehl
          Gepostet um 14:41 Uhr, 30. März

          … oder ich. 🙂
          Mein Mann ist auch Naturwissenschaftler, meine beiden Kinder studieren Naturwisssenschaften und ich war in meinem ersten Beruf (Schmalspur)naturwissenschaftlerin.. Die Diskussionen zu Hause sind mitunter sehr emotional und entsprechend „aufregend“, aber das bringt einen weiter und weitet den Horizont.

          5

          0
          Antworten
          • Esther Gisler Fischer
            Gepostet um 15:01 Uhr, 30. März

            Und ich habe mein Herz einem Informatiker anvertraut. Etwas allzu materialistisch? Wenn das nur gut geht!

            5

            0
    • Bruno Amatruda
      Gepostet um 13:41 Uhr, 30. März

      Die Idee, sich schon im Studium mit angrenzenden Gebieten zu befassen, liegt wirklich nahe, da gebe ich Claudia Mehl recht. In der Praktischen Theologie hat man ja auch Einsicht in Psychologie, Soziologie etc. Das könnte auch den Blick schärfen, um in diesem „esoterischen“ Gebiet zwischen interessant, anregend, wissenschaftlich haltbar oder umgekehrt als Humbug, Geldmacherei und Eso-Quatsch zu unterscheiden.

      7

      0
      Antworten
  • Claudia Mehl
    Gepostet um 08:45 Uhr, 30. März

    Entschuldigung für die vielen Tippfehler. Mein Computer ist heute morgen abgestürzt und ich habe diese Zeilen auf dem natel getippt. Aber…. kleines Display, dicke Finger, schlechte Augen …. ist nicht ganz kompatibel. ???

    5

    0
    Antworten
  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 08:54 Uhr, 30. März

    Ein interessanter und wertvoller Beitrag, den du uns da lieferst lieber Bruno; -danke! Gerade ein religionswissenschaftlicher Kulturvergleich würde zeigen,dass es Phänomene wie jene der Sichtbarkeit von Verstorbenen auch in anderen Religionen gibt.

    8

    1
    Antworten
  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 11:29 Uhr, 30. März

    Menschen, welche parapsychologische Erfahrungen machen, psychisch irgendwie leiden und dies als Wirken von Dämonen oder sogar des Teufels deuten, wenden sich offenbar gerne und in steigender Zahl entweder an röm.-kath. Exorzisten oder an freikirchliche BefreiungsdienerInnen, wie dies der gestrige Beitrag in der „Rundschau“ auf TV SRF gezeigt hat: https://www.srf.ch/sendungen/rundschau/exorzismus-sbb-schliesst-bahnhoefe-eritreische-asylbewerber

    Wie eine christliche, verantwortungsvolle Seelsorge in solchen Fällen aussehen könnte, zeigt dieses Interview mit Pfarrkollege Joachim Finger: http://reformiert.info/artikel/news/%C2%ABdie-probleme-beginnen-wenn-ich-vom-jenseits-hilfe-erwarte%C2%BB-0

    4

    0
    Antworten
    • Bruno Amatruda
      Gepostet um 13:49 Uhr, 30. März

      Zwei super Links, Sendung und Artikel! Danke, Esther. –

      4

      0
      Antworten
      • Esther Gisler Fischer
        Gepostet um 15:02 Uhr, 30. März

        Immer gerne! 😉

        3

        0
        Antworten
  • michael vogt
    Gepostet um 20:33 Uhr, 30. März

    die nahtoderfahrung ist eine erfahrung des todes und damit des zukünftigen, des lebens nach dem tod. ob es ein leben nach dem physischen tod gibt, kann die reine vernunft, wie kant sie versteht, mit der die naturwissenschaft arbeitet, nicht sagen. beweisen kann sie, dass eine vestorbene person in unserer erinnerung weiterlebt. leben nach dem tod im theologischen sinn bedeutet aber, dass diese person selbst auch etwas davon hat. erscheinungen von vestorbenen ehepartnern, das finde ich ja hochinteressant! das hat mich veranlasst „berührend“ zu wählen. dass jesus als erstling der entschlafenen auferweckt worden ist, glaube ich seit jeher nicht. was im neuen testament als „auferweckung“ bezeichnet wird, geschieht schon immer. die erscheinungen des gekreuzigten damals sind etwas normales. die theologie karl barths ist stark vom weg vom besonderen zu allgemeinen geprägt. ich finde es besser umgekehrt: was in der geschichte von christus geschah, ist etwas, was sonst auch geschieht, auch wenn es dort in einiger hinsicht ausgeprägter ist. der weg vom allgemeinen zum besonderen ermöglicht die einsicht in die unvollständigkeit der offenbarung durch ihn und in die notwendigkeit der offenheit gegenüber anderem, das uns unter umständen erst ermöglicht, das eigene überhaupt zu verstehen. der in allen mir bekannten religionen für die lebendigkeit des lebens grundlegende tod während des lebens kann für sich genommen als etwas völlig abstossendes, lebensfeindliches erscheinen. erweist er sich aber als der nahtoderfahrung vergleichbar, beginnen wir ihn zu verstehen als wuderbare erfahrung des bejaht werdens oder wie man es dann immer interpretiert. der tod als „geheimnis des lebens“, wie eberhard jüngel, der genialste und berühmteste schüler karl barths, es formuliert – was denn auch die coincidentia oppositorum von esoterik und theolgie antönt und – das kann ich jetzt nicht auch noch gleich abhandeln – die coicidentia oppositorum von vernunft und offenbarung. das ist systematische theologie. was ist dagegen zu sagen? alles sendet und alles empfängt, telepathie, die uns davor bewahrt, das gebet auf etwas zu reduzieren, was nur den betenden etwas sagt. die verneinung der kausalität durch die quantenphysik konnte mich anererseits bisher nicht überzeugen. die theologie ist darauf auch nicht angewiesen: befreiung durch eine weitere kausa. was dieses letzte angeht, wäre umgekehrt der esoterik, der mystik, der spiritualität. . . zu empfehlen, auch mal bei der theologie – zb bei der dogmaitk als dogmenkritik oder der ethik als normenkritik – reinzuschauen.

    3

    0
    Antworten

Kommentar abschicken