Die Bibel, das Grundgesetz und getanzte Nutzungsbedingungen

Die Bedeutung des geschriebenen Wortes erhält gemäss Eric Heise eine neue Dimension. Geschäfts- und Nutzungsbedingungen sind erfahrungsgemäss nur für sehr wenige Konsumentinnen und Konsumenten Pflichtlektüre vor Inbetriebnahme eines neuen Gerätes oder einer Dienstleistung. Hand aufs Herz: Verwenden nicht die meisten von uns diese Art der Lektüre doch nur im Schadensfall, um auch dann nicht so richtig verstanden zu werden? Insofern unterscheidet sich die Verwendung der Nutzungsbedingungen von Facebook in keiner Weise – sie werden kaum gelesen und der Schadensfall ist eingetreten: Die Datenanalyse Firma Cambridge Analytics, die inzwischen nicht mehr existiert, hat nach jüngsten Meldungen mit Daten von rund 87 Millionen Facebook-Nutzerinnen und Nutzern den US-amerikanischen Wahlkampf zugunsten des damaligen Kandidaten Donald Trump beeinflusst, der heute 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Grund genug, um einen Blick auf die Geschäftsbedingungen von Facebook zu werfen, die nach Eric Heise zu den einflussreichsten Werken der Gegenwartsliteratur zählen (zur Glosse) und wichtiger seien als Bibel und das Grundgesetz bzw. die Verfassung. Rund 2,1 Milliarden Menschen weltweit nutzen Facebook mindestens einmal im Monat (demzufolge rund 5,4 Milliarden aber auch nicht). Wobei an dieser Stelle der Hoffnung Ausdruck verliehen werden soll, dass dennoch ab und an ein Griff zu Verfassung und/oder Bibel erfolgt, wenigstens aus kulturellem Interesse.

Um solch einem bedeutenden Werk wie den Nutzungsbedingungen von Facebook also gerecht zu werden, scheint es mehr als angemessen, besondere und ausgefuchste didaktische Massnahmen zu ergreifen. So wurde im vergangenen Jahr in Bremen das Musical „Facebook-AGB – Das Musical“ aufgeführt und der Text in einem Musical getanzt, besungen und gelesen (auf youtube ansehen).

Vielleicht hilft aber auch ein Blick auf die nackten Fakten, um der Eigendynamik der virtuellen sozialen Welt näher zu kommen. Laut Oliver Bendel, Professor für Wirtschaftsinformatik, Wirtschaftsethik, Informationsethik und Maschinenethik an der Fachhochschule Nordwestschweiz, “dienen Soziale Medien der – häufig profilbasierten – Vernetzung von Benutzern und deren Kommunikation und Kooperation über das Internet” (…). “Mithilfe von sozialen Medien kann man sich austauschen, etwa unter Privatpersonen oder unter Mitarbeitern. Man kommuniziert, man arbeitet und gestaltet zusammen, wobei Text, Bild und Ton verwendet werden. Man kann sich als Unternehmen mit Kunden vernetzen, zum Zweck des Marketings, der Marktforschung, des Kundensupports und -feedbacks oder des Crowdsourcings, oder als Verwaltung mit Bürgern, zum Zweck der Information und der Partizipation. Auch der HR-Bereich profitiert, indem er sich über Bewerber informiert und Mitarbeiter akquiriert. (https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/soziale-medien-52673)

Über digitale Plattformen werden Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen, Wirtschaftsaktivitäten getätigt, soziale Beziehungen hergestellt und gepflegt. Die Bedeutung sozialer Medien und auch deren konstruktiver Funktionen liegt klar auf der Hand, und Facebook ist weltweit das grösste Netzwerk mit den höchsten Nutzerzahlen. Dass dabei allerdings nicht nur Aktivitäten entstehen, die der Entwicklung von sozialem Zusammenhalt, Frieden und Demokratie dienen, ist hinlänglich bekannt – die andere Seite der Medaille. Immer häufiger stellen sich Fragen nach Formen der Regulierung, die von den einen als Beschneidung der Meinungsfreiheit und von den anderen als notwendige Einschränkung der Macht der Internetkonzerne eingestuft wird, um demokratische Diskussionskultur zu erhalten und zu gestalten.

Ist daher mehr Datenschutz nötig oder handelt es sich um überflüssiges Getöse? Das ist eine Streitfrage, die an dieser Stelle nicht gelöst werden kann. Eine wichtige Voraussetzung für die Diskussion ist jedoch die Kenntnis der Nutzungsbedingungen der sozialen Medien. Wie ist es also beim grössten Netzwerk Facebook um diese Bedingungen bestellt?

Persönliche Daten, oft als der Rohstoff des 21. Jahrhunderts bezeichnet, werden durch Masse, vielfältige Auskünfte über Alter, Geschlecht, Hobbies, politische Prioritäten oder Konsumwahl und algorithmische Anwendungen in komplexen Computeranwendungen zu Profilen integriert, die eine entsprechende zugeschnittene Werbung, aber auch die gezielte Zusendung politischer Nachrichten und anderer Kontexte, wie z.B. die Verlinkung mit anderen Inhalten oder Personen, ermöglichen. In den Nutzungsbedingungen von Facebook wird  das Ziel des Unternehmens beschrieben als „Mission“, den „Menschen die Gelegenheit zu geben, Gemeinschaften zu bilden“. Wichtiges Mittel hierfür ist gemäss Facebook „personalisierte Erlebnisse“ zu bieten, die Unterstützung der Verbindung mit Menschen und Organisationen, die Möglichkeit, „sich auszudrücken“ und der Austausch über Dinge, „die dir wichtig sind“. Dabei sollen die Erlebnisse „durchgängig und nahtlos“ sein, was bedeutet, dass auch auf Daten der Personen zugegriffen wird, mit denen die Einzelne interagiert. Der Adressat der Nutzungsbedingungen ist übrigens das kumpelhafte „Du“, dem oder der geholfen werden soll, „“Inhalte, Produkte und Dienste zu entdecken, die dich möglicherweise interessieren“.

Der Schutz  „unserer Gemeinschaft“ ist Facebook wichtig, und „schädliches Verhalten“ wird bekämpft, das „die Sicherheit“ der Anwendungen gefährdet.   In den Richtlinien werden eine Fülle von Zugriffen auf Daten genannt, um diese genannte Gemeinschaft herstellen zu können: Informationen von Personen, Seiten, Konten, Hashtags und Gruppen, mit denen eine Verbindung besteht; Kontaktinformationen über die Art der Geräte und deren Inhalte (wie z.B. Adressbücher), die Nutzung der Produkte (Zeit, Häufigkeit und Dauer „Deiner“ Aktivitäten, z.B. Kameranutzung), Transaktionen (Speicherung von Zahlungsinformationen wie Kredit- oder Debitkartennummer, Konto- und Authentifizierungsinformationen sowie Abrechnungs-, Versand- und Kontoangaben); Netzwerk- und Verbindungsdaten (Mobilfunk- oder Internetanbieter, Sprache, Zeitzone, IP-Adresse). Dabei werden Geräte und facebookeigene Dienste miteinander vernetzt (wie z.B. WhatsApp oder Oculus), standortbezogene Daten und Gesichtserkennungssoftware eingesetzt, um ein möglichst „individuelleres und einheitlicheres“ Erlebnis zu gewährleisten. Die Informationen werden mit Personen und Konten vernetzt, auch ausserhalb der Facebook-Gruppe, und sie sind öffentlich einsehbar. Es werden eine ganze Reihe von Drittpartnern genannt, die Facebook dabei unterstützen, „Facebook Business-Tools zur Geschäftssteigerung“ zu nutzen. Die Rechte an den eigenen Daten, z.B. bei der Löschung eines Kontos, beziehen sich nur auf das eigene Konto. Persönliche Daten wie z.B. Fotos, die bereits mit anderen geteilt worden sind, können nicht entfernt werden.

Der kurze Einblick in die Datenaktivitäten von Facebook, der an dieser Stelle leider nur schriftlich dargestellt und nicht getanzt werden kann, zeigt, dass der Vorfall mit Cambridge Analytics kein „Unfall“ war, sondern ein normaler, in den Nutzungsbedingungen enthaltener Geschäftsvorgang.

Wirft das nicht einige erhebliche Diskussionsbedarfe für die Zukunft auf?

  • Wie soll mit der Tatsache umgegangen werden, dass die Nutzungsbedingungen sozialer Plattformen bestehenden rechtlichen Bedingungen in der Schweiz widersprechen? (Link: https://www.edoeb.admin.ch/edoeb/de/home/datenschutz/Internet_und_Computer/onlinedienste/soziale-medien/erlaeuterungen-zu-sozialen-netzwerken.html). Welche Fragen ergeben sich für die öffentliche Diskussion, für Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft?
  • Die grössten Anbieter von sozialen Diensten verfügen über eine Monopolstellung, die die Mechanismen der Marktwirtschaft (wie z.B. Wettbewerb zugunsten von Kundinnen und Kunden bzgl. Bedingungen oder Preisen) aushebelt. Wie soll mit dieser Monopolstellung umgegangen werden?
  • Menschen geben freiwillig persönliche Daten preis, deren Verwendung in sozialen Netzwerken ihnen auch schaden kann. Welche ethischen Fragen stellen sich für das Verständnis von Freiheit?
  • Die Grundmechanismen von Facebook, deren Ziel es ist, homogene Gruppenbildung zu unterstützen, wirken der Anforderung in Demokratien, sich pluralistischen Diskussionen zu stellen, entgegen. In Kombination mit der Monopolstellung einiger Anbieter, z.B. von Facebook im Bereich mobiler Kommunikationsdienste mit einem Anteil von 75%, stellen sich neue Herausforderungen zur Bildung von Orten und Plattformen demokratischer Auseinandersetzung.
  • Sind Anbieter sozialer Plattformen als reine Dienstleister für Dritte zu betrachten oder als Medienunternehmen und somit für die Rechtskonformität der Inhalte mitverantwortlich?

Fragen, die diskutiert werden müssen. Denn die Problematik stellt sich in immer neuen Dimensionen, wenn, wie die Neue Zürcher Zeitung am 8. August vermeldete, Facebook die Kooperation mit Banken und Finanzdienstleistern sucht – und damit den Zugriff auf weitere Kundenprofile.

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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1Kommentar
  • Ruth Floeder-Bühler
    Gepostet um 16:03 Uhr, 21. August

    Ja, die „sozialen“ Medien sind asozial. Sich als Profil zu sehen und sich in einen simplem Algorithmus zu zwängen ist armselig. Andere Menschen als Profil zu sehen und in einen simplen Algorithmus dahinter zu zwängen, ist in unserer Vorurteilsgesellschaft, wo nur Meinung und Schein und nicht Wissen und Sein gilt, leider die Regel. Jetzt, da wir gerade 50 Jahre „1968“ haben, stelle ich fest, wie unfrei die Menschen geworden sind. Ich glaube, es ist wieder mal eine Befreiung aus der kantischen selbstverschuldeten Unmündigkeit fällig.

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