Faktisch, postfaktisch, kontrafaktisch
Das Wort „postfaktisch“ ist zum „Wort des Jahres 2016“ gewählt worden. Der Gegenspieler von Lüge und Zynismus kann aber nicht das „Faktische“ sein. Gerade die Debatte um das „Postfaktische“ in Politik und Medien zeigt, wie manipuliert und hoch-konstruiert das „Faktische“ ist.
Nein, das Regulativ für die öffentliche Debatte, so dass Verständigung wieder möglich wird und Wahrheit wieder eine Chance erhält, ist nicht das „Faktische“, sondern das „Kontrafaktische“.
Schon die alt-orientalische Weisheits-Tradition ging von der Intuition einer Schönheit und „Richtigkeit“ im Kosmos aus, an der das menschliche Leben in Reden und Handeln sich ausrichten kann. Die griechischen Philosophen haben daraus die regulativen Ideen von Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit abgeleitet. Mit Bezug auf diese Ideen sollte es möglich sein, wahr von unwahr zu scheiden. So war auch für Ethik und Politik ein Weg zu finden, der nicht mit Gewalt, sondern mit Argumenten ausgefochten wird. Auch das Schöne war nicht einfach nur ein Geschmacksurteil, es war mit dem Wahren und Guten verbunden.
Diese drei Geltungsansprüche von Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit haben die abendländische Kultur seit der Antike begleitet. Sie haben geholfen, eine Kultur der Wissenschaft, des friedlichen politischen Ausgleichs und der Ästhetik zu schaffen.
Die regulativen Ideen, die diese Kultur leiten, leben aber nicht in der Welt empirisch vorfindbarer „Fakten“. Ihre Gültigkeit leitet sich nicht davon ab, dass sie in der Welt des Faktischen vorgefunden werden können oder dass sie dort zum Normalfall gehören. Das tun sie gerade nicht. Sie gelten vor aller Erfahrung. Es sind „kontrafaktische“ Ideen.
Daran zu erinnern ist wohl nicht überflüssig. Das lässt auch die Gedankenwelt der Religion besser verstehen und erkennen, warum diese in der heutigen „postfaktischen“ Verwirrung eine Hilfe sein kann.
Corinne Duc
Gepostet um 09:31 Uhr, 29. Dezember»Gerade die Debatte um das „Postfaktische“ in Politik und Medien zeigt, wie manipuliert und hoch-konstruiert das „Faktische“ ist.«
Einverstanden. Doch weshalb soll es sich mit sog. „Kontrafaktischem“ anders verhalten?
Hatten die Nazis und die Stalinisten mehr recht als ihre Gegner, weil sie sich um das Wohl der meisten Menschen foutierten? Oder weil sie absurde ideologische Argumente verwendeten?
Vernünftige regulative Ideen leiten sich offenbar ebensowenig aus bloss empririschen Fakten wie aus blossen kontrafaktischen Behaupten ab.
Das Merkmal einer vernünftigen Theorie oder Weisheit liegt doch immer darin, dass sie mit unseren Grundsätzen, die irgendwo auch mit unserer Erfahrungswelt im Zusammenhang stehen, zutiefst vereinbar ist bzw. insgesamt einen besonders konsistenten Begründungszusammenhang bildet.
Andreas Imhasly
Gepostet um 12:04 Uhr, 29. DezemberVon Behauptungen sprach der Autor nicht und ich verstehe ihn auch nicht so. Es zeigt diese Reaktion nur, wie heikel es ist, Schlagworte gleichsam gegen den Strich variieren oder gar bürsten zu wollen. Aber der Gedanken-Anstoss bleibt trotzdem wichtig.
michael vogt
Gepostet um 02:24 Uhr, 30. Dezembervielleicht verstehe ich falsch, aber ich habe bisher gemeint, dass zb die geschichte von jesus ein faktum ist, das „unsere kultur leitet“
Peter Winiger
Gepostet um 10:17 Uhr, 31. DezemberWie dem Postfaktischen begegnen?
Wo gelogen wird, wo im Interesse von Auftraggebern fake-news verbreitet werden, helfen die Netzwerke von Fakten-Checkern, die die Behauptungen überprüfen und die Resultate ins Netz stellen.
Schwieriger ist es, wo Zynismus herrscht, wo überhaupt bestritten wird, dass es so etwas wie Wahrheit gebe. Diese lebt nicht in der empirischen Welt, es ist eine Intuition. Das hat erkenntnistheoretisch keinen harten Standort, man kann damit nichts schlüssig beweisen und Gegner triumphalistisch bezwingen. Dass wir an Wahrheit und Gerechtigkeit glauben, das wird uns im Gegenteil oft erst bewusst, wenn wir eine Situation erleben, die aller Wahrheit und Gerechtigkeit ins Gesicht lacht. Darum der Name „kontrafaktisch“, es sind Intuitionen, die wir denk- und lebensnotwendig haben müssen, gegen alle Erfahrungen in einer Welt, die Durchsetzungsregeln von Macht und Einfluss folgt.
Der Ort, wo das im Christentum wirkmächtig verhandelt wird, ist die Passion Christi. Er hängt ohnmächtig am Kreuz und seine Gegner verspotten ihn. Die Machthaber lassen ein Schild aufstellen: Jesus von Nazareth, König der Juden. „Schaut euch diesen König an“, heisst das, „ohnmächtig am Kreuz. Auf so einen wollt ihr eure Hoffnung setzen?“
Und die Zuschauen fallen in das Gelächter ein. Ihr Spott richtet sich verzweifelt gegen den eigenen Glauben, der sich verblenden liess, an etwas Gutes zu glauben. Und jetzt strecken sie die Waffen angesichts dieser Demonstration der wahren Macht in dieser Welt. „So ist es in dieser Welt, dumm ist, wer etwas anderes glaubt.“ Der Spott ist eine zynische Selbstdemontage und eine resignative Anpassung an das, was als Wirklichkeit der Welt wahrgenommen wird.
Seine Anhänger aber wenden das Zeichen seiner Ohnmacht in ein Zeichen der Kraft. Die Zeichen von Scham und Schande werden zu Zeichen des Glaubens an den Gott, der sie daraus befreit hat. Das Kreuz wird aus einem Instrument der Folter, der Schande, des Ausgesetzt-Seins, zu einem Zeichen der Rettung, der Ehre, des Hineingenommen-Werdens und Dazugehörens, selbst für die Letzten und Geringsten, die an sich selbst verzweifeln.
Ich habe das in einem Beitrag entfaltet, den ich mit dem Artikel zum „Postfaktischen“ eingereicht habe. Aber da es eine Warteliste von Beiträgen gibt, kann dieser Beitrag offenbar erst in einer oder zwei Wochen auf den Blog hochgeladen werden. Dann wird deutlicher werden, was ich mit meinem Beitrag meine.
Verena Thalmann
Gepostet um 10:54 Uhr, 02. JanuarHerzlichen Dank Herr Winiger für diese erweiterten Gedanken und Sätze. Sie haben mir geholfen, ihren Artikel noch besser zu verstehen.
Es ist gut – ist mir lebensfördernd – sich diesen Hintergründen zu stellen und sie weiter wirken zu lassen.
michael vogt
Gepostet um 21:02 Uhr, 08. Februarals ich gestern nach dem ausladen und aufhängen der wäsche meine wohnung wieder erklommen hatte, ging es mir auf einmal auf: der zweite beitrag, auf den ich mich beziehe, i s t ja die von Ihnen erwähnte verdeutlichung. die bücher, die 1986 auf dem österberg bei tübingen peripatetisch stärker als anderswo von radioaktivität betroffen wurden, habe ich nach 30 jahren in den keller gestellt. „gott als geheimnis der welt“, wo ich nachschlagen könnte, ist auch auf dem internet – aber dort habe nichts unterstrichen. darum aus dem gedächtnis.: „christus ist schon so lange für unsere sünden gestorben, dass es bald nicht mehr wahr ist.“ (g.w.f. hegel, ein schwabe) das nenne ich postfaktisch. es wurde zwar schon so gesehen, ist aber nicht mehr aktuell. wir können es vernachlässigen. so verstanden, könnte doch Ihre argumentation mehr für sich haben. die bedeutung des todes von christus ist eine offenbarungswahrheit. ich habe dargelegt, warum sie nicht postfaktisch genannt werden kann, muss aber einräumen, dass hegel genau das macht, und einräumen, dass die vermittlung der religion seit langem genau so geprägt ist. sühne, dass christus an unserer stelle den physischen tod erleidet, was für alle andern die alternative todesstrafe möglich macht, indem sie mit ihm sterben und in einem neuen leben wandeln – wo kommt das heute noch vor? den evangelikalen bereich kenne ich nicht. dort wahrscheinlich schon. sonst gibt es nur die polemik gegen anselm von canterbury, die ihre berechtiung hat, aber übersieht, dass der angegriffene darin recht hat, dass nicht nur die welt mit gott, sondern auch gott mit der welt versöhnt wird, indem der zorn des vaters mit seinem sohn stirbt. dass der sohn vom zorn des vaters getroffen wird, bedeutet, dass er von den konsequenzen der verdrängung der wahrheit (rm1.18ff) getroffen wird. diese konsequenzen werden andauernd thematisiert, die spezifisch theologische entsprechung fällt aus. die auffasung, dass jesus kurz vor seiner kreuzigung in den himmel erhoben worden sei, ist ohne umweg über hegel und den schwäbischen dialekt ein kontrafaktisches verhältnis seiner kreuzigung. während das kontrafaktische im amerikanischen wahlkampf zum grossen thema wird, ist das und seine konsequenzen kein thema. ich stimme mindestens insofern zu, als wir dabei nicht stehen bleiben sollten: die frage nach der coincidentia oppositorum von gekreuzigt und nicht gekreuzigt. warum hat jesus in dieser weise provoziert? weil er ein kind einer patriarchalischen religion und gesellschaft war? es ist nicht möglich, das leben durch gewalt zu verlieren und zugleich eines natürlichen todes zu sterben: durch buddha und christus eine vollständigere inkarnation. „nicht gekreuzigt“ der hinweis auf die notwendigkeit dieser vollständigeren inkarnation. von unserer historischen wissenschaft her gesehen, die coincidentia oppositorum des faktischen mit dem kontrafaktischen. das allerdings nicht als verallgemeinerung, nicht als aufforderung, das verhältnis von erkenntnis und interesse gemein, ungerecht und unwahr auf kosten der erkenntnis gehen zu lassen.
michael vogt
Gepostet um 21:16 Uhr, 08. Februarhier doch noch ein link zum zitat: https://books.google.ch/books?id=TPZj87DkyWYC&pg=PA214&lpg=PA214&dq=christus+ist+schon+so+lange+f%C3%BCr+unsere+s%C3%BCnden+gestorben,+dass+es+bald+nicht+mehr+wahr+ist&source=bl&ots=ag6OtsLL0J&sig=dFIFmM57L9etG_Bn-72DpXnei9E&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjr3oSPpoHSAhXLfxoKHU_nCtEQ6AEIHDAA#v=onepage&q=christus%20ist%20schon%20so%20lange%20f%C3%BCr%20unsere%20s%C3%BCnden%20gestorben%2C%20dass%20es%20bald%20nicht%20mehr%20wahr%20ist&f=false
meine erste antwort ist unten als kommentar gelandet. „wertlose wahrheit“ heisst im übrigen nicht, wie auf dieser seite schon gemutmasst wurde, die wahrheit habe keine politische relevanz, sondern: es geht nicht immer gleich um eine werte diskussion.
und wo oben nur „verhältnis“ steht, muss es heissen „verhältnis zu“
Seraphim Weibel
Gepostet um 18:32 Uhr, 07. JanuarEin etwas überraschender Hüpfer vom Wort Postfaktisch zu einer Wahrheitstheorie.
Es geht nicht um die Wiederauferstehung von Intuition wie sie meinen, sondern um Biologie. Uns Menschen, wie den Affen, ist ein Gerechtigkeitssinn angeboren. Wenn der Affe nebendran zwei Trauben für einen Auftrag kriegt und erster nur eine wird rebelliert. Über diesen Gerechtigkeitssinn kommen wir zum Faktischen. Wer lügt wird mit Verachtung sozial bestraft. Punkt. Ausser es sind Politiker bis hoch zum amerikanischen Präsidenten. Das meint Postfaktisch: Lüge wird nicht Sanktioniert, das ist ungerecht und verstörend. Das Tabu der Lüge wird dem ZIel von Einfluss und Macht untergeordnet. Das war scho immer so, wird aber seit dem Jahr 2016 in einer bemerkenswerter Schamlosigkeit öffentlich gezeigt. Wohlgemert in der selben Zeit in der noch nie so viele Menschen so gut Gebildet und dankt Internet hervorragend Informiert sind. Eine Sachliche Debatte wird nicht mehr von Fakten bestimmt, sondern rein über Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Zugehörigkeit vor Wahrheit. Durch solche Werte-Haltungen wurden die schlimmsten gräueltaten der Menschheit begangen.
michael vogt
Gepostet um 23:37 Uhr, 07. Februardie zeit ist längst abgelaufen, und es ist ein zweiter beitrag von Ihnen erschienen, dem wir kommentierenden wohl nicht gerecht geworden sind: die frage, wie – wie ich es formulieren würde – die theologische wahrheit verwaltet wird, ein meines erachtens legitimer anthropologischer aspekt – hätte eine würdigung aus noch anderen gesichtspunkten verdient. zb verlangt die kirche von pfarrpersonen einen theologischen universitätsabschluss, die mediale vermittlung von religion verlangt eine solche qualifikation nicht. die idee des vaters von hansjörg schultz, dass nicht pfarrer und priester hier aktiv sein sollen, sondern jounalisten, hat viel für sich. zugleich stellt sich aber die frage – um es kurz zu sagen – ob immer die rechten fragen gestellt werden. was hans georg gadamer sagt, hat seine berechtigung: die wahrheit bestimmt die methode. erst wer die wahrheit kennt, kommt auf die rechte fragestellung. erlauben Sie mir – unabhängig davon – zum schluss eine frage, die nun direkt hierhin gehört: geht es in Ihrem beitrag tatsächlich um das kontrafaktische und das postfaktische? geht es nicht darum, dass ein faktum verschieden interpretiert wird? mein eindruck ist, die diskussion um das kontra- und postfaktische bewegt sich im erkenntnisbereich der reinen vernunft. sobald eine erkenntnis der offenbarungsgestützten vernunft, um die es bei der interpretation des faktums durch die glaubenden geht, als faktum hingestellt wird und ihre bestreitung als kontra- oder postfaktisch – wird es da nicht gefährlich? die befreiung aus dem tod, um die es letztlich geht, ist die auferweckung. die verwandlung von tod in leben gehört aber nicht zum erkenntnis- und tätigkeitsbereich der reinen vernunft. sie ist eine offenbarungswahrheit oder, in der konsequenz, eine glaubenswahrheit. es geht um religionsfreiheit. wir dürfen nicht, wenn jemand nicht an die auferweckung glaubt, sagen, das sei kontra- oder postfaktisch. dies wird ja definiert als „gegensatz zwischen behauptungen oder gedankenmodellen und der realität“. die auferweckung ist aber eine nur aufgrund von offenbarung wahrnehmbare realität. die reine vernunft erkennt davon nichts und kann darum ihre bestreitung nicht als kontra- oder postfaktisch verurteilen. das wäre fatal! oder was sehe ich falsch? meine antwort ist etwas lang geworden, aber da wir hier wahrscheinlich zur zeit unter vier augen sind – die zahl ist vielleicht leicht kontrafaktisch – , macht das wohl nichts, und ich ende mit freundlichem dank für Ihre beiden beiträge, die erschienen sind, seit ich hier zugegen zu sein die ehre habe, wie kant es möglicherweise zum ausdruck bringen würde.
michael vogt
Gepostet um 23:52 Uhr, 07. Februarzur verständlichkeit: das vierte komma wäre eigentlich ein gedankenstrich. und die journalistinnen und journalisten bitte ich um entschuldigung für das fehlende r. den verschreiber deute ich als ausdruck meines tieferen wunsches, das sie mitspielen (jouer), was ich ja auch im bewusstsein nicht anders sehe. dasselbe gilt für alle beteiligten fachrichtungen.
michael vogt
Gepostet um 20:54 Uhr, 09. Februarmeine ausführungen zu hegel enthalten eine undeutlichkeit. aber der langen rede kurzer sinn: das übergehen einer offenbarungswahrheit darf in einer liberalen gesellschaft nicht postfaktisch genannt werden. anders in einer durch diese wahrheit begründeten religionsgemeinschaft. bei bekenntnisfreiheit ist besondere vorsicht und umsicht angezeigt. aber auch hier kann unter umständen dieses übergehen postfaktisch genannt erden.