Farbe bekennen

Wir zeichnen das Jahr 57 nach Christus und befinden uns auf dem Mittelmeer, auf der Schifffahrtslinie von Patara, in der heutigen Türkei, nach Tyrus, das im heutigen Libanon liegt.

Wir sind auf einem Handelsschiff, das hauptsächlich Weizen, Gewürze, Tiere aber auch Menschen an Bord hat. Einer davon ist Paulus. Er ist gerade auf dem Rückweg von seiner dritten Missionsreise. Vier Jahre hat sie gedauert. Die vergangenen Jahre waren anstrengend. Es ist ruhige See. Paulus sitzt an Deck und schaut auf das Meer – lässt die Jahre seiner Reise noch einmal vorbeiziehen. Viele Menschen hat er kennengelernt. Juden, Heiden, Bekehrte, Zweifelnde, Römer und Griechen. Es waren Freundliche und Aufgeschlossene dabei, aber auch solche, die ihm distanziert begegneten. Ihm fallen Begegnungen ein, die ihm besonders in Erinnerung geblieben sind. Da war die Familie mit den sieben Kindern. Heimatlos zogen sie Richtung Mazedonien. Eigentlich hatten sie einen vernünftigen Lebensunterhalt. Aber genau dort, wo ihr Stück Land war, bauten die Römer eine Zollstation. Sie wurden vertrieben. Seitdem waren sie auf der Flucht. Vertrieben und nicht mehr heimisch geworden. Überall wo sie hinkamen waren sie Schmarotzer, Fremde, Unerwünschte. Paulus wurde Zeuge, wie selbst Christen sie abwiesen.

„Was wollt ihr hier, geht hin, wo ihr hergekommen seid“

„Um uns kümmert sich ja auch keiner“

„Das sind doch nur Wirtschaftsflüchtlinge“

Je mehr Paulus seine Erlebnisse ins Gedächtnis zurückholt, umso mehr reift in ihm der Vorsatz, etwas Grundsätzliches dazu festzuhalten. Seine Gedanken kreisen weiter und stocken bei der Gemeinde in Rom. Er hatte schon so viel von ihr gehört. Doch bis Rom gekommen, ist er noch nie. Wie gehen die Menschen dort wohl mit solchen um, die auf der Flucht sind? Die anklopfen, wie einst Maria und Joseph, auf der Suche nach einer Herberge.

Da fasst er plötzlich einen Entschluss. Er wird der Gemeinde in Rom einen Brief schreiben, in den all das hineinfliessen muss, was er erlebt hat. So geschieht es dann auch, der Römerbrief entsteht. Ein Brief an eine Gemeinde, die ihm zu dieser Zeit noch nicht bekannt ist. Klar, er kennt viele mit Namen aus diversen Berichten. Aber persönlich ist er noch keinem begegnet. Paulus fasst in seinem Brief die wichtigsten Fragen des Evangeliums zusammen. Und zwar so, dass sie seinen alltäglichen Erlebnissen der letzten Jahre genügen. Warum sollen die Menschen in Rom anders sein als die, denen er begegnet ist? Beim Nachdenken fallen ihm zahlreiche Stellen in der heiligen Schrift der Juden ein, die von ähnlichen Begebenheiten berichten. Bereits bei Mose ist zu lesen (3.Mose 19,33-34), wie Gott dem Volk Israel mitteilt:

Wenn sich ein Ausländer bei euch niederlässt, sollt ihr ihn nicht ausbeuten. Den Ausländer, der bei euch wohnt, sollt ihr wie einen von euch behandeln und ihr sollt ihn lieben wie euch selbst“.

1500 Jahre sind seit dem Entstehen dieser Zeilen vergangen. Geändert hat sich seitdem nicht viel, findet Paulus und merkt, wie er kurzzeitig resigniert. Trotzdem beschliesst er, sich des Themas anzunehmen. Er spürt, dass die Gute Nachricht von Jesus Christus Grundlegendes dazu zu sagen hat. Er spürt, wie Jesus sein Herz berührt hat. So viel zur Vorgeschichte. Einige Monate später entsteht dann der bekannte Römerbrief.

Zentrale Botschaft ist, dass Gott denjenigen erlöst, der an ihn glaubt (Röm1,16). Und diese Botschaft ist für jeden bestimmt. Juden wie Griechen, Römer wie Heiden, wichtig allein ist der Glaube.

Er schreibt: Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; eine Kraft Gottes ist es zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen.»

Im Kapitel 15 des Römerbriefes fordert er dann in Vers 7: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.“

In diesen Worten bildet sich vieles von dem ab, was Paulus erlebt und erfahren hat. Ablehnung, Vorbehalte und Vorurteile sind ihm immer wieder begegnet. Unsachlichkeit und Selbstsucht haben ihn fassungslos zurückgelassen.

„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.“

Man kann auch übersetzen: „Nehmt einander an, weil Christus euch angenommen hat.“

Also, weil Christus uns annimmt, so wie wir sind, weil er uns trägt, sind wir im Glauben befähigt und auch aufgerufen, einander anzunehmen – trotz verschiedener Ansichten, Weltanschauungen und Einstellungen. Trotz verschiedener Rassen, Kulturen, Religionen. Und dieses „Einander-Annehmen“ dient nicht nur allein unserem Zusammenleben, es dient dem Lob Gottes. Aus dem Glauben an Gott resultiert eine tolerante Haltung. So sind Glaube und Toleranz also zwei Seiten einer Medaille.

Die Glaubensgewissheit ermöglicht es mir, dass ich andere toleriere. Weil ich von Gott getragen bin, kann ich andere ertragen. Und Gott hat uns gezeigt, dass er uns trägt, indem er Mensch geworden ist und in Jesus Christus in unsere Welt kam, um unsere Schuld und unser Leid mitzutragen, ja mitzu-ertragen.

Und wenn wir Christinnen und Christen uns als von Gott getragen und geliebt wissen, dann hat das doch auch Folgen – Folgen für uns selbst und Folgen für andere. Denn wer sich von Gottes Liebe getragen weiss, der kann auch Liebe weitergeben, der kann andere annehmen und Toleranz üben und Frieden den Verschiedenen bringen.

Nun bin ich allerdings nicht so weltfremd, wie es vielleicht klingt. Auch mir ist klar, dass das – vor allem in Anbetracht der aktuellen, weltweiten Flüchtlingsströme – nicht so einfach ist. Dass es Ängste gegenüber diesen Menschen aus fremden Kulturen gibt, mit ihren Eigenheiten und Besonderheiten, die wir nicht kennen, die uns fremd sind. Paulus hat das erlebt. Das hat es zur Zeit Mose bereits gegeben. Und all das gibt es bis heute. Täglich erschüttern uns Bilder von geflüchteten Frauen, Männern und Kindern, die auf der Suche nach Schutz und einer besseren Zukunft nach Europa fliehen. Die Menschen kommen über das Mittelmeer oder den Landweg. Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, so viele wie nie zuvor. Das macht uns Angst, auch mir manchmal. Wir fühlen uns hilflos und überfordert.

Ich denke als Christinnen und Christen müssen wir hier immer wieder unseren Glauben an Jesus Christus ins Gedächtnis rufen.

Wir können und sollen einander an- oder aufnehmen, weil Gott uns unterschiedlich geschaffen und begabt hat und weil er uns alle – in aller Verschiedenheit – gleichermassen zu seinen Kindern gemacht und dadurch Gemeinschaft ermöglicht hat. Sicher, mit den momentanen Flüchtlingsströmen weltweit stehen wir heute vor einer besonderen Herausforderung.

Doch die Aufforderung „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob“

ist klar nach aussen gerichtet und gilt auch hier. Sie ist hochethisch und politisch und sagt uns, dass wir Christinnen und Christen uns einmischen sollen, wenn Menschen auf die Strasse gehen und gegen Flüchtlinge protestieren und hetzen. Ich bin mir sicher, das hätte auch Paulus getan. Sein Beispiel ist eine grosse, einzigartige und nach aussen gerichtete Empfehlung.  Paulus hätte auch resignieren können. Wer hätte es ihm verdenken können, wenn er damals auf dem Schiff gesagt hätte: „Das alles hat doch sowieso keinen Sinn“. Stattdessen hat er durchgeatmet und den Römerbrief geschrieben. Einen Brief, der sich einmischt wie kein zweiter. Eines der grössten Empfehlungsschreiben für Jesus Christus.

Ein Brief, der die Welt verändert hat, insbesondere als sich Martin Luther damit beschäftigte. Ein Brief, der für etwas steht, was auch für uns zentral sein sollte.

„Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet.“

Lasst uns also einmischen. Lasst uns Farbe bekennen für Gott. Lasst uns einander annehmen wie Christus uns angenommen hat, zu Gottes Lob.

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3 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 21:01 Uhr, 16. Juli

    erlösung und gerechtigkeit „aus glauben“ sind im zusammenhang mit der einwanderung problematisch. von was für einem glauben spricht paulus? wer von den einwandernden und wer von uns lebt in diesem glauben? rechtfertigung, neuschöpfung, erlösung ist etwas, was für alle gilt. es ginge auch darum, analogien in andern religionen und auch in nicht-religionen zu finden. in dem allem ist der römerbrief nicht nur problemlösung, sondern selbst auch problem.

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 12:48 Uhr, 20. Juli

    Danke Frau Mehl für Ihr ‚Wort zum Donnerstag‘! Ich vermute, es handelt sich dabei um Ihre Predigt zum Flüchtlingssonntag. Und mit „Farbe bekennen“ wirbt ja das HEKS für mehr Toleranz Flüchtlingen gegenüber. Nebst viel Differenzverträglichkeit ImmigrantInnen gegenüber braucht es auch das Justieren der Stellschrauben unserer Weltwirtschaft, welche in ihrer heutigen Form Ungerechtigkeiten und Flüchtlingsströme nachgerade generiert.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 08:54 Uhr, 21. Juli

    Für mich auch eher Textsorte „Predigt“ als Blog ….

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