Holokratie – Unternehmen neu gedacht
Haben Sie schon einmal das Wort Holokratie gehört? Nein? – Dann sind Sie vermutlich bislang in grosser Gesellschaft. – Oder doch? Dann wissen Sie: Es gibt auch in der Schweiz schon einige Unternehmen, die Varianten des Konzepts Holokratie in Teilen ihres Unternehmens umsetzen, z.B. in Teams der Swisscom oder auch bei Brot für alle.
Holokratie – Vision für Traumtänzer?
Holokratie – alle sollen regieren! Aber: Kann das nicht nur wieder eine zum Sterben verurteilte Idee sein? Für Traumtänzer, Neunmalkluge, für Visionäre, die besser zum Arzt gehen sollten, so der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der damit vor Jahrzehnten eine „pampige Antwort auf eine dusselige Frage“ gab?
Praxisbericht von Jan Tschannen, „Kirchenfritz“ bei Brot für alle
Jan Tschannen, Kirchenfritz, Entschuldigung: Theologe, bei Brot für alle, geht als Teil eines sich teilweise holokratisch organisierenden Teams seit ungefähr einem Jahr diesen Weg. Er berichtet inspirierend und kritisch nachdenkend aus der Praxis. Er ist dabei nicht daran orientiert, das Konzept von Brian Robertson, der selbst ernannten Leitfigur der Holokratie, vorzustellen. Brot für alle übernimmt auch nicht alle Ansätze der Holokratie in seine Verfassung, sondern hat sich von anderen Unternehmen, die derartige Versuche machen, in neuartige Unternehmensstrukturen einführen lassen.
Die Gedanken, die Jan Tschannen präsentiert, klingen zunächst so theoretisch, dass es schwer fällt, sich die Praxis vorzustellen. Tausend Fragen tauchen auf. Sie spiegeln sich in der angeregten Diskussion, die nach dem Interview im Hirschli stattfindet. Stephan Jütte, der Moderator, fragt probehalber, wer sich nach diesem Abend vorstellen könnte, in einem holokratischen Team zu arbeiten. Etwa 80 bis 90 % der Gäste an diesem Abend scheinen interessiert. Mir selber geht es auch so.
Fröhlichere KollegInnen
Was an der Sache hat so einen Charme für mich? Ein Stichwort fällt: Die Selbstwirksamkeit aller wird grösser. Jan Tschannen sagt, er habe den Eindruck, die KollegInnen seien „fröhlicher“ als vorher. Niemand muss mehr einzeln zum Vorgesetzten gehen, komplexe Zusammenhänge in fünf Minuten ausdrücken, um dann die Bestätigung von oben zu erhalten, dass man gut gearbeitet hat und jetzt starten darf. Das heisst jedoch nicht, dass jeder einfach machen kann, was ihm spontan in den Sinn kommt. Holokratie bedeutet nicht den endgültigen Sieg der Autokratie von Individualisten. Das könnte tatsächlich in den Ruin von Unternehmen führen. Andererseits gibt es den Einwand, dass einfach mit Tricks daran gearbeitet wird, die Selbstausbeutung, die in kirchlichen NGOs reichlich vorhanden ist, möglichst effizient zu steigern.
Gemeinsame Werte schaffen eine höhere Identifikation mit dem Unternehmen
Zu Beginn der Umstellung bei Brot für alle stand, wie immer in solchen holokratischen Prozessen, eine Diskussion um die Werte, denen sich die MitarbeiterInnen verpflichtet fühlen. Strukturierte Diskussionen führen dazu, dass Einwände ernst genommen, durchdacht und assimiliert werden. Vom amerikanischen Unternehmen Zappos erfährt man, dass 20 % der ArbeitnehmerInnen, andere sagen sogar 29 %, das Unternehmen verlassen haben, weil sie sich nicht mit den Werten und Zielen aus dem holokratischen Prozess identifizieren wollten. Ein sinnvolles Ergebnis?! Das Unternehmen brach deshalb nicht zusammen, aber ein Teil der Neuerungen wurde wieder abgeschafft.
Seit Jahren ist die Zahl der ArbeitnehmerInnen in Deutschland, die in einem Zustand der inneren Kündigung herumlaufen, laut den Ergebnissen des Gallup-Marktforschungsinstituts konstant bei etwa 20 %. Der Schaden für die Wirtschaft geht in die Milliarden. Gründe für diese Haltung: fehlende Wertschätzung, unklare Zielvorgaben und fehlende Feedbacks. In holokratischen Prozessen soll es all das, Wertschätzung, klare Ziele, konkrete Feedbacks für die Beteiligten, auf neue Weise geben. Ein Beispiel für die Feedbackkultur bei Brot für alle ist, nicht mehr ein Chef, sondern drei KollegInnen geben Feedback. Man hat sich darauf verpflichtet, diese Rückmeldungen einzuholen.
Eine von verschiedenen Rollen bei Jan Tschannen: Der Kirchenfritz
Dass Jan Tschannen bei Brot für alle jetzt „Kirchenfritz“ statt Theologe heisst, hat auch damit zu tun, dass er eine Rolle einnimmt, die für alle klar durchschaubar und anerkannt ist. Wenn es um theologische Aspekte geht, dann ist er der Experte und in der Rolle, seine Sicht der Dinge zu formulieren und damit auch Anspruch auf Wirksamkeit zu haben. So kann dann nicht ein theologisch unbedarfter Marketing-Experte einen Flyer entwerfen, auf dem ein katholischer Rosenkranz als Symbol von Brot für alle auftaucht. Brot für alle ist vor einem reformierten Hintergrund zu platzieren. Der Marketing-Experte muss das Feedback von Jan Tschannen in seine Arbeit einbeziehen. Allerdings wird in der kritischen Diskussion von Holokratie der Wert dieser Unterscheidung zwischen Person und Rolle in Frage gestellt. Denn: Können echte Beziehungskonflikte leichter gelöst werden, wenn ich mir vorstelle, dass der andere mir nur seiner Rolle wegen Steine in den Weg legt?
Sei du die Veränderung, die du dir für die Welt wünschst! (Gandhi)
Neben all den Anleihen beim Holokratiekonzept gibt es interessante eigene Ideen von Bfa in der erneuerten Unternehmensführung. So hat man sich gefragt, ob der Wandel, den Brot für alle für die Produktion von Lebensmitteln und die damit zusammenhängende Wirtschaft anstrebt, sich nicht ebenfalls in einem überzeugenden Wandel in der eigenen Unternehmensführung ausdrücken muss. Ein Anfang ist gemacht.
Die Veranstaltung zu Holocracy fand im Rahmen des Salon um Sechs statt.
michael vogt
Gepostet um 01:47 Uhr, 24. Februarholokratie – das letzte wort des neuen testaments (1kor 15.28): christus, der pantokrator, der herr der welt, „unterwirft“ – ein wort das uns bekannt vorkommt – sich dem vater, so dass er als zweite person der trinität nicht mehr existiert. der vater ist nicht mehr vater, sondern – ein wort, das uns auch bekannt vorkommt – alles. was freilich heisst, auch vater, aber nicht nur. der pantokrator tritt einen schritt zurück – sie, die personähnliche alles verändernde vereinigung von allem mit allem. der einstieg in den dialog der religionen und nicht-religionen. „irgendwann nannten wir ihn traumtänzer“, schreibt eine journalistin 2008 in einer rubrik „insomnia“. „. . .fast als wäre er in seinem letzten leben eine federleichte, von weissen wölkchen träumende ballerina gewesen“ – solche dinge schreibt sie (über mich übrigens) und sieht die sache, wie ich finde, etwas zu pathologisch, hält aber, was er macht, in sinne kunderas, dann doch irgendwie für „normaler als alles andere“. was ich bestätigen kann: die bewegung kommt aus einem gesamten. eine bewegung, die das ich, gewissermassen als herr im eigenen haus, macht, stört.
michael vogt
Gepostet um 05:35 Uhr, 24. Februarauch die grille am wegesrand regiert mit