Inbrünstig

Trittst im Morgenrot daher,
Seh’ ich dich im Strahlenmeer,
Dich, du Hocherhabener, Herrlicher!
Wenn der Alpenfirn sich rötet,
Betet, freie Schweizer, betet!
Eure fromme Seele ahnt
Eure fromme Seele ahnt
Gott im hehren Vaterland,
Gott, den Herrn, im hehren Vaterland.“

Ich kann mich noch gut erinnern, wie mein Lehrer in der vierten Klasse grossen Wert darauf gelegt hat, dass wir diese Zeilen auswendig konnten. Für ihn war es selbstverständlich, dass wir, seine Schülerinnen und Schüler, den Schweizerpsalm jederzeit vorsingen konnten. Vielleicht hatte das mit seiner politischen Gesinnung zu tun, vielleicht damit, dass er Gebirgsgrenadier im Militär war, vielleicht aber, war er einfach nur so aufgewachsen und es gehörte sich eben so.

Als ich davon jeweils in meinem Umfeld erzählt habe, wurde ich mit grossen Augen angeschaut. Die Nationalhymne muss man doch nicht mehr auswendig können.
Also wirklich so etwas. Köpfe wurden geschüttelt.

20 Jahre später zeigt sich ein ganz anderes Bild. Wir feiern mit stolzer Brust den 1. August und wir ärgern uns, wenn an der Fussballweltmeisterschaft „unsere“ Jungs die Worte des Schweizerpsalms nicht singen können. Hätten sie doch bloss alle denselben Lehrer gehabt, wie ich damals. Ja, dann…

Ja, dann was? Sollen Sie inbrünstig singen: „Betet, freie Schweizer, betet.“
Ja, zu welchem Gott denn? Und überhaupt, wer betet denn heutzutage noch?
Mal abgesehen davon: Hand auf’s Herz, wer von Ihnen singt diese Zeile mit ganzer Überzeugung mit?

Trifft auf uns nicht eher die Haltung zu, welche der Theologe und Journalist Andreas Malessa einmal beschrieben hat:

„Jubel. Das, was im Lobpreis am Sonntagmorgen erwünscht ist, aber bereits beim Bundesligaspiel im Stadion am Samstagnachmittag stattgefunden hat.“

Es fällt wohl den meisten bedeutend einfacher unsere Lieblingsmannschaft zu bejubeln. Den Lieblingsspieler anzubeten, als diesen unsichtbaren, nicht greifbaren Gott?

Wir leben in einer stark visuellen Zeit. Was man sehen kann, ist wahr.
Was man anfassen kann real. Denken wir.
Doch müssten wir nicht gerade in Zeiten der Fake-News-Debatte vorsichtig geworden sein? Eine kritische Distanz hat noch nie geschadet.

Ist der singende Fussballer der „wahre Eidgenosse“?
Oder doch der, welcher nicht mitsingt, aber sein ganzes Herzblut ins Spiel gibt.

Ist Gott nur Gott, wenn wir ihn sehen können? Oder ist er nicht vielmehr deshalb Gott, weil wir ihn nicht fassen können? Weil er mehr ist als wir erklären können?

Geht es im Gebet und im Unterwegs sein als Gläubige eben nicht um das, was wir Glauben nennen?
So wie es etwa im Hebräerbrief 11, 1 heisst:

„Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“

Beweisen können wir Gott nicht. Aber das müssen wir auch nicht.
Zu ihm beten oder ihn anbeten dürfen wir jeder Zeit. Ob in guten oder schlechten Zeiten.
Denn schon in den Schriften der Bibel wurde Gott hochgejubelt, angeklagt, gefeiert und angezweifelt. Da stehen wir also in einer langen Tradition.

So möchte ich Sie ermutigen: Singen sie am 1. August den Schweizerpsalm mit, oder überlassen sie das anderen. Ob Sie eine richtige Schweizerin sind oder ob Sie richtig glauben, zeigt sich im anderswo, im Verborgenen.

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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10 Kommentare
  • Anonymous
    Gepostet um 08:26 Uhr, 31. Juli

    Oh Wunder der Schöpfung: Unterhalb der Blüemlisalp gibt es einen Doppeladler der „God shave the Queen“ krächzt. Und niemand hört hin…

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 11:08 Uhr, 31. Juli

    Auch ich empfinde gemischte Gefühle gegenüber dem Schweizerpsalm. Einerseits kommt er für mich als nüchterne Zürcherin mit grossem Pathos daher. Andererseits klingt viel bei mir an, wenn es um die fast mystische Gottesbegegnung in der Natur geht. Beten ist für mich in diesem Zusammenhang nicht Teil der frommen Lebensführung, sondern Ausdruck einer Ergriffenheit, vor der auch die freien SchweizerInnen sich neigen. Vielleicht wäre die Frage nicht nur: „Wann beten wir?“, sondern auch „Wovor neigen wir uns?“ – auch in der Grossstadt, in der Hektik, in einem Leben mit Smartphone und Computer?

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    • michael vogt
      Gepostet um 05:43 Uhr, 01. August

      mein gefällt mir mit der kleinen abänderung „in der“

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  • michael vogt
    Gepostet um 05:38 Uhr, 01. August

    gerade „in einer stark visuellen zeit“ sollten wir nicht sagen, dass man gott nicht sehen kann. das wort gott wird für etwas transparent, das ich nicht abzulehnen brauche.

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    • michael vogt
      Gepostet um 06:40 Uhr, 01. August

      ich würde auch nicht sagen „nicht greifbar“, sondern in allem greifbar

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  • Andreas Schneiter
    Gepostet um 10:36 Uhr, 01. August

    Vor wenigen Jahren besuchte ich den Gottesdienst am Bettag in meiner Heimatgemeinde.
    Ein Deutscher ist dort zur Zeit im Pfarramt – und er macht seine Sache sehr gut.
    Als Schlusslied liess er „Trittst im Morgenrot daher“ singen.
    Für ihn war klar: Wenn dieses Lied in unserem Gesangbuch steht, dann ist der Bettagsgottesdienst die passende Gelegenheit, dieses Gebet zu singen.
    Zunächst war ich erstaunt, dann berührt. Die Episode ist unvergesslich.

    P.S. Was ist vom Vorschlag zu halten, wenn „betet freie Schweizer“ durch „betet freie Menschen“ ersetzt würde?
    Aus dem Schweizerpsalm würde ein „Menschenpsalm“ – ein schlichter Aufruf zum Gebet, unabhängig von der Religionszugehörigkeit.

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 15:01 Uhr, 07. August

    Die SSG, die ‚Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft‘, welche auch das Rütli verwaltet, hat ein Projekt gemacht zu einem neuen Text der Landeshymne. Leider bis jetzt ohne grosse Resonanz. Weitere Infos hier: https://www.sgg-ssup.ch/de/new-nationalhymne.html

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    • michael vogt
      Gepostet um 16:18 Uhr, 07. August

      wenn ich recht verstehe, geht es aber nicht bereits wieder um einen neuen text, sondern darum, dass der text von werner widmer, der sich 2015 durchsetzten konnte, anerkannt wird. persönlich bin ich gegen diesen text: bund und mund, das geht für mein ohr nicht. für den fall, dass not am mann sein sollte, habe ich, nachdem der siegertext erkoren war, die hymne eingeschickt, die ich etwas 2008 für polo hofer geschrieben habe, natürlich zu einer anderen melodie:

      u der murtesee
      u der vierwaldstättersee
      u all die seee
      won i i üsem land scho ha gseh

      u der mythe
      u der niese
      u all die bärge
      wo i üsem land süsch no stöh

      rumantsch
      französisch
      italiänisch
      u all die sprache
      wo me i üsem land süsch no redt

      u der bundesrat
      u der nationalrat
      u all die versammlige
      wo drin gfochte wird

      u die müetere
      u die töchtere
      u all die lüt
      wos i üsem land süsch no git

      u de chönntemer alli uf eim ton blibe
      und üs einig sy
      u de chönntemer e zwöite ton wage
      und üs usenandersetze

      ch ch ch ch
      ch ch ch ch

      fanfaren, auch zwischen den strophen

      schlussakkord

      (polo hat das ding narürlich/leider nicht gebracht: es sei zu anspruchsvoll für seine fans)

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      • Esther Gisler Fischer
        Gepostet um 15:20 Uhr, 21. August

        Jedem Tierchen sein Pläsierchen! 😉

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        • michael vogt
          Gepostet um 23:15 Uhr, 28. August

          die individualhymne 😉

          die meine ist aber so konzipiert, dass – mit einem augenzwinkern – alle mitsingen können

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