Insel der Vergessenen
Seit ich Victoria Hislops Roman «The Island» gelesen hatte, wollte ich dahin. Nach Spinalonga, einer der letzten Leprakolonien Europas, ein Steinwurf von der kretischen Küste entfernt. So nah und doch ohne Wiederkehr. Nicht nur ich machte übrigens Bekanntschaft mit Spinalonga durch Hislops Buch. Auch das moderne Griechenland tat es. Dank dieses Romans wurde die verschwiegene Geschichte der Leprakranken auf Spinalonga aufgearbeitet. Die Gedenktafel auf dem Friedhof der namenlosen Toten stammt von 2013.
Endstation?
Minderheiten, Aussenseiter, Stigmatisierte faszinieren mich. Unkritischer Mainstream macht mir manchmal viel mehr Angst. Woher beziehen wir unsere Kraft, wenn wir nicht mehr von der Gesellschaft oder Mehrheit getragen sind? Allein auf uns gestellt? Wenn niemand mehr ja sagt zu uns – ausser …? Wieviel Energie wird auch frei, wenn es nicht mehr wichtig ist, was andere denken? Man/frau sowieso nicht mehr mithalten kann und es auch nicht mehr versucht? Ein fast reformatorischer Gedanke… Spinalonga also besuche ich jetzt, die Insel der Leprakranken, Aussätzigen, Ausgestossenen. Gegründet 1903 vom damals unabhängigen Kreta, ab 1913 nach der Wiedervereinigung mit Griechenland Endstation für alle Leprösen des Landes. Aufgelöst wurde die Siedlung erst 1957. Erste wirksame Medikamente gegen Lepra existierten seit den 40iger Jahren; ebenso das Wissen, dass Lepra wenig ansteckend ist, wenn hygienische Basics beachtet werden. Warum diese Verzögerung?
«Lass zwei Tränen deinen Augen entrinnen»
Die Inselkolonie – heute touristisch vermarktet, ebenfalls dank Hislops Roman – betrete ich durch einen langen Tunnel. Genug Zeit, die Worte des ehemaligen Bewohners Epaminontas Remoundakis wirken zu lassen: «Wenn du den Weg von Spinalonga entlang läufst, verweile einen Moment und halte den Atem an. Aus irgendeinem der verfallenen Häuser wirst du noch den Totengesang einer Mutter hören, einer Schwester, den schmerzerfüllten Atemzug eines Mannes. Lass zwei Tränen deinen Augen entrinnen, und du wirst den Glanz von Millionen Tränen sehen, die diesen Weg begossen haben.» Familien wurden auseinandergerissen, Väter, Mütter, Kinder allein auf die Insel gebracht. Lebenslänglich. Unheilbar. Die sozialen Folgen dieses Vorgehens lassen wir am besten grad beiseite.
Bereits Ende Mai ist die Hitze gross, Schatten kaum vorhanden. Nur Klippen und Felsen. Was tut man da den ganzen Tag? Die ersten Kranken wurden von ihren Angehörigen mit dem Nötigsten versorgt, mit Fischerbooten aus dem nahen Plaka. Als ab den 20iger Jahren auch Mitglieder privilegierter Schichten aus Athen auf die Insel verbannt wurden, kam Bewegung in die Sache. Die griechische Regierung richtete Renten aus, eine Dorfgemeinschaft organisierte sich mit Kirche, Spital, Tavernen, Läden. Ein menschenwürdigeres Leben wurde möglich. Eine Ausstellung auf der Insel widmet sich zu meiner Überraschung vor allem historischen Ausgrabungen. Lepra? Ja, ähm, doch …. Doch genau dieses (Ver)Schweigen vergegenwärtigt das vergangene Unrecht gnadenlos. Auf Spinalonga schreien die Steine.
Eine Gemeinschaft entsteht
Die kleine Kirche ist intakt. Mit der Zeit kamen auch Geistliche auf die Insel, gesunde Aerzte und Pflegende, um den BewohnerInnen beizustehen. Und vor den Ruinen wiegen sich doch Gras, Olivenbäume, Oleander im Wind. Es gab auch schöne Momente. Fürsorge, Liebe, Gemeinschaft. Nicht nur gestorben wurde hier, sondern auch geheiratet, gefeiert, gearbeitet. Verhandelt mit der Regierung. Gelebt – dem sozialen Tod ins Gesicht. Eine Schicksalsgemeinschaft bildete sich, die zusammenhielt und sich nicht aufgab. Wenn wir uns nicht selbst helfen und an uns glauben, tut es keiner.
Gegen das Vergessen
Ja, diese Insel hat Ausstrahlung. Und vieles bleibt auch für heutige Stigmatisierungen aktuell – durch Krankheit oder anderes. Allein durch den dunklen Tunnel gehen und wissen: Das ist für immer. Später SchicksalsgenossInnen treffen, sich arrangieren und erfahren: Auch da ist Leben. Es ist das Heroische in dieser Wandlung, das mir ans Herz geht. Eine unglaubliche Kraft wird da spürbar. Jesus hat Aussätzige berührt, sie wieder an sich glauben lassen. Haben die Vergessenen auf Spinalonga Aehnliches erfahren? Die plötzliche Erkenntnis: Auch wenn ich mein bisheriges Leben verloren habe, lebe ich? So lange ich atme, mich sehne, liebe und leide, lebe ich? Ich lasse mich nicht vorzeitig auslöschen? Und viele lebten ja wirklich weiter auf der Insel, manchmal noch jahrzehntelang.
Auf dem kleinen Friedhof: keine Namen auf den Grabplatten. Alles überwachsen. Aber mit schöner Sicht in die Weite, aufs Meer hinaus. Und vor den Ruinen der alten Behausungen blüht ein weisser Jasmin. Gegen das Vergessen. Für uns.
Buchtipp: Victoria Hislop, The Island (dt. Insel der Vergessenen), Headline Review 2005
Luise Spahn
Gepostet um 07:07 Uhr, 08. JuniDazu zu empfehlen der jap.Film
Kirschblüten und rote Bohnen
Barbara Oberholzer
Gepostet um 06:54 Uhr, 09. JuniDanke für diesen Hinweis! Ja, in Japan gibt’s zu dieser Thematik noch einiges aufzuarbeiten. Schlimm!
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 09:12 Uhr, 08. JuniDanke Barbara für diesen berührenden Text!
Barbara Oberholzer
Gepostet um 09:37 Uhr, 08. JuniImmer gern ?! Sogar in meinen Ferien denke ich an diesseits ?
Anita Ochsner
Gepostet um 09:56 Uhr, 08. JuniSchöne Ferien! 🙂 😎
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 18:44 Uhr, 09. JuniJa, das ist super!
Undine Gellner
Gepostet um 11:34 Uhr, 08. JuniDanke, Barbara, das ist wunderschön!
Brigitte Hauser
Gepostet um 11:57 Uhr, 08. JuniBerührend. Schöne wichtige Gedanken und Fragen am Anfang. Danke für den Buchtipp.
Barbara Oberholzer
Gepostet um 14:54 Uhr, 08. JuniVielen Dank für alle diese positiven Rückmeldungen! Als ich meinen Beitrag einreichte, war ich sehr unsicher, ob das überhaupt jemanden interessieren würde? Ich tat es nicht zuletzt auch „gegen das Vergessen“ … ?
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 18:45 Uhr, 09. JuniJa genau: Gegen das Vergessen von so viel Leid steht dein feinsinnig geschriebener Text exemplarisch!