Interview mit Carsten Ramsel: Die Säkularen in der Schweiz

Carsten Ramsel, Religionswissenschaftler hat sich während seiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent besonders mit der wachsenden Bevölkerung der „Nicht-religiösen“ in der Schweiz beschäftigt. Nach zahlreichen Interviews mit diesen so genannten „Säkularen“ hat er Zweifel, ob es diese soziale Gruppe überhaupt gibt. Wir haben nachgefragt:

Seit Jahrzehnten sinken die Mitgliedszahlen der Reformierten Kirche, wird die Schweiz immer weniger religiös?

Wenn ich die Frage auf die religiöse Zugehörigkeit und den Gottesdienstbesuch beziehe, kann ich sie sicherlich bejahen. Die neuesten Daten des Bundesamtes für Statistik zeigen ausserdem, dass nur noch etwa die Hälfte der Reformierten an einen einzigen Gott glaubt oder mindestens einmal im Monat betet. Bei anderen Glaubensformen, nach denen gefragt wurde, sind die Zahlen ähnlich (BFS 2015). Bei den Säkularen ist der Anteil derjenigen, die an einen einzigen Gott glauben mit etwa 10% genauso marginal wie jene 15%, die mindestens einmal im Monat beten. Über Formen der Religiosität/Spiritualität, die nicht einer christlichen Tradition entstammen, weiss man leider sehr wenig.

Wer sind denn die Säkularen?

Von Säkularen spreche ich üblicherweise dann, wenn die Menschen nicht religiös sind. Es ist nur seltsam, eine Gruppe mit einer negativen Eigenschaft zu beschreiben. Ich gehöre ja auch nicht zu der Gruppe der Nicht-Fussballspieler, nur weil ich nicht gegen den Ball trete. In der Religionsforschung ist es am einfachsten jene als Säkulare zu bezeichnen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Es gibt dabei mindestens zwei Unsicherheiten: 1. gibt es ziemlich sicher auch unter den Mitgliedern der Reformierten Kirche Säkulare und 2. wenn jemand keiner Religionsgemeinschaft angehört, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass er oder sie keine religiösen Überzeugungen hat.

Gibt es denn etwas, dass die Säkularen gemeinsam haben?

Das ist genau der Punkt! Eine soziale Gruppe hat üblicherweise bestimmte soziale Eigenschaften gemeinsam, die sie von anderen sozialen Gruppen unterscheidet, oder anhand derer die Mitglieder einer sozialen Gruppe sich von anderen abgrenzen (z.B. Nationalität, Geschlecht, Unterstützung eines bestimmten Fussballvereins). Diese gemeinsamen Eigenschaften fehlen jedoch den Säkularen.

Man kann jedoch festhalten, dass die Säkularen mehrheitlich männlich und zwischen 25 und 45 Jahre alt sind; sie sind häufig unverheiratet und kinderlos; sie sind überdurchschnittlich gut ausgebildet und verfügen meist über ein gutes Einkommen. Manche Studien beschreiben sie als Individualist/innen oder Hedonist/innen. Für die Säkularen sind Beruf, Familie und Freizeit genauso sinnstiftend wie für andere Menschen auch, religiöse Überzeugungen und Vergemeinschaftungen hingegen nicht.

In Bezug auf Einstellungen und Werte gibt es keine statistisch signifikanten Unterschiede zu religiösen Menschen. Es gibt nur eine Ausnahme: in Fragen der Abtreibung vertreten die Säkularen deutlich liberalere Werte als Religiöse. Ausserdem konnte man in der gesellschaftlichen Diskussion um die Knabenbeschneidung aus religiösen Gründen vor ein paar Jahren Unterschiede zwischen Religiösen und Säkularen entdecken. Religiöse befürworteten üblicherweise die Knabenbeschneidung aus religiösen Gründen, während Säkulare sie ablehnten.

Die Säkularen sind ja oft auch religiös erzogen worden. Wie aber sind sie zu Säkularen geworden?

Ich habe mit Säkularen in der Schweiz gesprochen; es gibt einige Erzählungen, die sich wiederholen. Religiosität habe in ihrer Kindheit keine grosse Rolle gespielt, allenfalls die Mutter sei religiös gewesen. Die religiöse Unterweisung hätte in ihrer Jugend nichts mit ihrem Leben zu tun gehabt, und sei ihnen weltfremd vorgekommen. Die religiösen Geschichten erschienen ihnen unglaubwürdig. Schliesslich sei Wasser gepredigt und Wein getrunken worden. Sie hätten irgendwann selbst zu denken begonnen, und sich dann von ihrer religiösen Erziehung distanziert. Diese Erzählung passen zu der Erklärung, dass die Säkularen schon wenig oder gar nicht religiös erzogen worden seien, und sie deswegen im Jugend- oder Erwachsenenalter zu Säkularen würden.

Eine andere Studie besagt, dass Säkulare, die sich vom Elternhaus abgrenzten, sich auch von ihrer religiösen Erziehung ablösten. Je stärker die Abgrenzung vom Elternhaus sei, desto stärker sei auch die Ablösung von ihrer religiösen Erziehung.

Was weiss man sonst noch über sie?

In der Schweiz steht die Erforschung der Säkularen erst am Anfang. Dementsprechend weiss man über sie nur sehr wenig. Eine Forschungsgruppe um Stefan Huber (Universität Bern) und Jörg Stolz (Universität Lausanne) führen dazu gerade eine breit angelegte und beachtenswerte Studie durch. In den Vereinigten Staaten gibt es die Forschung schon etwas länger. Dort spielen in der Forschung häufig politische Motive eine Rolle, weswegen ich die Forschung aus den Vereinigten Staaten immer etwas kritischer betrachte. Das Meiste, das man weiss, erhält man aus der Religionsforschung, wo die Säkularen dann die Restkategorie zu den Religiösen bilden.

Sie haben mit einigen von ihnen gesprochen, was fällt dabei auf?

Ich war zu der Zeit ganz neu in der Schweiz, und ich wusste gar nicht, was mich erwartete. Erstaunlicherweise waren alle Gesprächspartner sehr offen und haben mir viel aus ihrem Leben erzählt. Auf dem ersten Blick sind mir dabei keine Gemeinsamkeiten aufgefallen. Die Lebensgeschichten waren alle sehr individuell und jede für sich bemerkenswert. Es fiel mir allerdings eine gewisse Abneigung zu jeder Form von Vereinliwesen und (ethischer) Fremdbestimmung auf. Viele präsentierten sich als Individualisten.

Dann hat es mich gewundert, dass sich niemand religionskritisch äusserte, niemand erzählte von schlechten Erfahrungen in der Jugend oder mit der Erziehung. Es gab nicht einmal ein distanziertes Verhältnis zur Religion bzw. Religiosität/Spiritualität. Manche erzählten von ihrer unbedeutenden religiösen Erziehung, aber eigentlich war das Thema meinen Gesprächspartnern einfach egal.

Wie ist denn das Verhältnis der Säkularen zur Reformierten Kirche?

In den meisten Gesprächen spielte die Reformierte Kirche einfach gar keine Rolle. Einer war der Meinung, sie leiste gute Arbeit im Quartier und ein Anderer fand, dass das Verhältnis von Staat und Kirche in der Schweiz gut geregelt sei. Ihm sei eine politisch unbedeutende, aber staatlich gestützte Reformierte Kirche lieber als die Situation in den Vereinigten Staaten, wo christliche Freikirchen die Politik stärker mitbestimmten.

Dann ist ja häufig noch von Distanzierten die Rede, was ist darunter zu verstehen?

Eine Forschungsgruppe um Jörg Stolz hat versucht die religiösen Pluralitäten in der Schweiz zu beschreiben. Die vorgeschlagene Typologie geht von einem gesellschaftlichen Normalfall der religiösen Zugehörigkeit und dem Glaube an einen persönlichen Gott aus. Eine mögliche Abweichung von dieser Norm sind die Distanzierten. Darunter sind jene Personen zu verstehen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören oder an keinen persönlichen Gott glauben. Angesichts der neuen Zahlen, dass etwa ein Viertel der Schweizer Wohnbevölkerung keiner Religionsgemeinschaft mehr angehört und nur noch jede/r Zweite an einen persönlichen Gott glaubt, stehe ich dem beschriebenen Normalfall skeptisch gegenüber. Die Typologie macht es sich vielleicht etwas zu einfach und wird den tatsächlichen gesellschaftlichen und individuellen religiösen Pluralitäten in der Schweiz nicht gerecht.

Wie sieht die Zukunft der Reformierten Kirche in der Schweiz aus?

Von der heutigen Situation auf die Zukunft zu schliessen, ist unredlich. Ich möchte also lieber von einer möglichen Zukunft sprechen. Für die Reformierte Kirche in der Schweiz wird sich meiner Meinung auf lange Sicht gesehen nichts ändern. Für entschieden Religiöse ist sie zu liberal und für die Säkularen zu unbedeutend. In der öffentlichen politischen Debatte meldet sie sich kaum zu Wort, oder wird nicht wahrgenommen. Sie wird auch zukünftig erzittern, wenn Bischof Huonder oder der Papst etwas verlauten lassen, weil manche Menschen über so wenig religiöses Wissen verfügen, dass sie nicht einmal den Unterschied zwischen Reformierter und Römisch-katholischer Kirche kennen. Sie wird also weiterhin Mitglieder verlieren. Gesellschaftlich und politisch gibt es keine Anzeichen, dass ihr die finanzielle und strukturelle Unterstützung seitens des Staats abhandenkommt. Dies könnte erst dann geschehen, wenn ihr die Mehrheitsgesellschaft in ethischen Fragen und bei persönlichen Schwierigkeiten die Bedeutung abspricht. Danach sieht es aber zur Zeit nicht aus.

Konkret, keine religiöse Sozialisierung, sinkende Mitgliederzahlen: Sind wir unterwegs zu einer Kirche, die soziale Angebote an den Staat verkauft, mit ein paar Wenigen Gottesdienste feiert und eigentlich mehr NGO als Volkskirche ist?

Ich habe an anderer Stelle die Landeskirchen einmal mit einem Kulturverein verglichen. Sie tradieren eine bestimmte, christliche Kultur, Sprache, Texte und Riten. Sie feiern Gottesdienste mit ihrer älter werdenden Gemeinde. Sie organisieren Konzerte und Kunstausstellungen ihrer christlichen Kultur, die auch von anderen besucht werden. Sie bieten gewisse soziale Dienstleistungen für alle an, und ermöglichen ihren Mitgliedern und Anderen die Begegnung.

In einigen postsozialistischen Ländern sind die Jüngeren religiöser als die Alten, und in den Schweizer Medien war zu lesen, dass die politischen Machthaber in Russland aus nationalistischen Motiven wieder mit der Orthodoxen Kirche kooperiert, und beide voneinander profitieren. Für beide Szenarien sehe ich in der Schweiz allerdings keine Anhaltspunkte.

Ganz persönlich denke ich, dass die Kirchen über Jahrhunderte das Leben der Menschen in Europa mitbestimmten, weil sie sich mit den Mächtigen gemein machten. Zuerst haben sie die Deutungshoheit darüber, wie die Welt ist, mehr und mehr verloren, später kam ihnen die finanzielle und politische Macht abhanden. Seit den 1970er Jahren büssen sie ausserdem die Deutungshoheit in gesellschaftlichen, ethischen und besonders religiösen Fragen ein. Insbesondere die individuelle religiöse Überzeugung ist zu einer persönlichen Frage geworden. Und auch wenn die Konsequenzen für die Kirchen befremdlich sein mögen, ich hoffe die Wenigsten – auch innerhalb der Kirchen – wollen in eine Zeit vor 1970 oder 1815 zurück.

Abschliessend noch eine Frage, was könnte die Reformierte Kirche Ihrer Meinung tun, um die beschriebenen Trends zu verändern?

Die Reformierte Kirche hat sicherlich genug fähige Leute und Beratung, um diese Frage für sich beantworten zu können (lacht). Dafür braucht es keinen deutschen Religionswissenschaftler, der erst ein paar Jahre in der Schweiz wohnt. Da mir diese Frage allerdings schon häufiger gestellt wurde, frage ich mich mittlerweile: Was soll sich denn ändern?

Strebt sie eine Re-Evangelisierung der Gesellschaft an? Die verlorenen Mitglieder kehren nicht einfach aufgrund einer Charmeoffensive zurück, und nach 200 Jahren Aufklärung und Religionskritik ist dies ein unwahrscheinliches Unternehmen. Hätte Sie gerne die gesellschaftliche und politische Deutungshoheit zurück? Dann bestimmte ein Viertel der Bevölkerung über die restlichen Dreiviertel. Ziemlich undemokratisch für eine Schweiz, die so viel auf ihre direkte Demokratie hält. Ich hoffe auch nicht, dass sich die Frauen wieder an Heim und Herd binden lassen. Oder möchte sie aus der Erde wieder eine Scheibe machen? (lacht)

Herr Ramsel, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Stephan Jütte am 15.3.

 

 

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4 Kommentare
  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 10:11 Uhr, 27. März

    Vermehrter Pluralismus ist sowohl in der Gesellschaft, als auch den einzelnen Religionsgemeinschaften auszumachen. Die Kirchen sind nurmehr Stimmen unter Vielen in einem vielstimmiten Chor von Glaubensauffassungen und Weltanschauungen. Das Evangelium, die „Frohe Botschaft“ also war, ist und wird jedoch nicht nur in den Kirchen zu finden sein. Zivilgeselllschaftlche Bewegungen, welche sich für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen, sind meines Erachtens ebenso gute Hüterinnen dieser befreienden Botschft. So gesehen sind wohl die Kirchen in der Krise, Gottes Geistkraft weht jedoch vielrorts und bringr Bewegung in Köpfe, Herzen und Hände!

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  • Andreas Imhasly
    Gepostet um 11:28 Uhr, 27. März

    Sorry, wenn ich nicht stromlinienförmig reagiere…..
    Es lebe der Trend! Es ist diie neue Stimme Gottes.Und solange er kostengünstig bleibt, oder geradezu gerwinnbringernd ist, ist Widerstand ohnehin sinnlos. Und weil die Kirche/n – wie landauf,landab verbreitet – keine eigene Botschaft mehr haben und nur noch spezifische Milieu-Angebote generiert, darf man ihrem Verschwinden gelassen zuschauen! (wer möchte schon aus der Erde wieder eine Scheibe machen?!) Der Markt wirds entscheiden und wirds richten. Und die wertfreie Religionssoziologie wird es zu erklären wissen.

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 15:40 Uhr, 27. März

      Was mich betrifft, so rede ich keinem „Trend“ das Wort und bekunde auch ab und an meine liebe Mühe mit dem Fokus auf Lebenswelten und Milieus. Die Botschaft der Kirchen ist klar und gründet auf dem Evangelium: Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Inklusion, Überschreiten gesellschafticher und kultureller Grenzen. Nächsten- und Feindeslebe. Dieses Programm ist ganz und gar nicht zeitgeistig! Diese Werte, welche gewisse Leute auch die „christlichen“ nennen, sind einfach nicht nur den Kirchen vorbehaten, sondern können auch ausserhalb verkündet und gelebt werden.

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      • michael vogt
        Gepostet um 16:33 Uhr, 27. März

        religion ist der ort, wo von der letzbegründung der werte gesprochen werden kann, von ihrer herkunft, die zugleich ihre realisierung ermöglicht. hier werden, nehme ich an, zwischen den religionen und konfessionen die mauern fallen – und auch zwischen religion und nicht-religion, was meine definition in gewisser weise auch infrage stellt. ich rechne mich übrigens durchaus zu den nicht-fussballern. andereseits: obschon ich in einer religion geboren und von verschiedenen religionen beeinflusst bin und diese sich daraus ergebende nicht-religiöse religion auch – wie man sagt – „praktiziere“, würde ich das wort „religiös“ – gewissermassen als möchtegernfussballer – am liebsten mit einem kräftigen freistoss ins tor des jenseits und des unendlichen und unbegrenzten befördern, das sich allerdings in lebendig machender selbsbegrenzung insofern selbst begrenzt, als es für das wohlergehen dieses wortes sorgen würde.

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