Kirche 2050

Das selbstfahrende Auto hielt vor dem Gebäude an. Draussen gab es ein paar Jugendliche, die akrobatische Einlagen auf der Skateanlage durchführten. Ich konnte es nicht wirklich fassen, aber diese Retro-Sportart war wieder en vogue. Beim Eingang fragte ich das Hologramm, wo sich der Pfarrer gerade aufhalte. Die elektronische Stimme antwortete:

«Pfarrer Steiner sitzt jetzt im Kaffee, gerade neben der Kindertagesstätte. Er berät im Moment ein Ehepaar. Ich würde noch 20 Minuten abwarten. In der Zwischenzeit können Sie unsere Gratis-Angebote nutzen. Hier ist die Liste.»

Bei der Option „Meditation“ blieb ich interessiert mit dem Zeigefinger stehen.

«Der Raum der Stille befindet sich im unteren Stock, einfach der digitalen Spur folgen», sagte das Hologramm und verabschiedete sich. Digitale Schritte am Boden zeigten mir den Weg und ein paar Minuten später betrat ich einen dunklen Raum. Eine weitere Lautsprecherstimme überraschte mich:

«Guten Tag, welche Einstellung möchten Sie für Ihre Umgebung?»

«Welche Einstellung meinen Sie?», fragte ich die anonyme Stimme.

«Sie können die Projektion an der Wand und die entsprechenden Hintergrund-Geräusche auswählen.»

Im Nu konnte ich zwischen verschiedenen Kulissen hin- und herspringen: eine Wüste, eine vereiste Berglandschaft, einen Strand voller Palmen. Ich entschied mich für den Sequoia-Wald. Ich konnte die Insekten hören, die in der Luft schwirrten und hatte sogar das Gefühl, die Düfte des Waldes riechen zu können. Dann musste ich eine bestimmte Sitzposition einnehmen und die Atemübungen durchführen, die mir eine weibliche Stimme anordnete. Bereits ein paar Minuten später konnte ich feststellen, wie sich mein Puls beruhigte und sich ein wärmendes Gefühl von Frieden und Ruhe in meinem Bauch breitmachte. Nach der Meditationssitzung ging ich mit diesem wohltuenden Gefühl nach oben. Erst jetzt entdeckte ich die digitale Bibliothek in der Nähe des Kirchentors. Ich blätterte den Online-Katalog bis zum Schluss: Zwingli Huldrych. Ich hatte in der Schule schon einmal von ihm gehört und bei einem Jubiläum in meiner Stadt ein Theaterstück besucht. Aber meine Kenntnisse blieben eher oberflächlich. Aus diesem Grund entschied ich mich, diese historische Figur besser kennenzulernen. Aus dem Katalog materialisierte sich die Zürcher Altstadt des 16. Jahrhunderts. Aus der Vogelperspektive erkannte ich das Grossmünster. Mit einem Klick war ich drin. Da sprach ein Mann von der Kanzel über Gerechtigkeit, Frieden und Selbstbestimmung. Eine charismatische Person, die die Reformation in Zürich initiierte, ohne es wirklich zu beabsichtigen. Dann sah ich den Pfarrer, den echten und physisch präsenten, wie er auf mich zukam und mich herzlich begrüsste:

«So, Sie durften bereits unsere revolutionäre Stimme hören.»

«Ja, Pfarrer Steiner, in der Tat eine spannende Person», konnte ich nur stammeln.

«Sich ständig zu hinterfragen gehört zu unserer Identität. Auch dank ihm. Eine Kirche, die für die Gesellschaft nicht relevant ist, wäre unnütz. Zum Glück haben wir vor 30 Jahren die Chance gepackt und diese Kirche umgestaltet. Jetzt bietet sie Platz für Familien und Kinder, Teenies und…»

«…und Musiker…», habe ich ergänzt, «…denn ich werde nächste Woche hier auftreten. Ich wollte nur nachschauen, was die Audio-Anlage zu bieten hat.»

«Ach, Sie sind dieser bekannte Digi-Performer. Schön, Sie hier zu haben! Machen Sie sich keine Sorgen, wir haben eine der besten Anlagen der Stadt. Im letzten Jahr hatten wir über 50 Konzerte im Hause. Viele organisieren wir nicht selbst, wir stellen lediglich die Räume unseren Mitgliedern zur Verfügung», sagte der Pfarrer lächelnd.

Nach dem erfolgreichen Audio-Test sagte der Pfarrer: «Dann bis nächste Woche, ich muss weiter, die Pflicht ruft!» und zeigte auf die nächsten Gäste, die bereits warteten. Ich tippte auf meinem Smart-Device und bestellte mir ein Auto. Ich wäre gerne ein bisschen länger geblieben, denn diese Kirche war genauso, wie ich mir das wünschte: einladend, überraschend und spirituell wohltuend.

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14 Kommentare
  • Anita Ochsner
    Gepostet um 06:35 Uhr, 13. November

    Lieber Herr Zacchei
    Dachte gleich beim Titel und den ersten Worten, dass dieser Beitrag von Ihnen stammen könnte, inspirierend und mit Leichtigkeit so scheint mir ist da Kirche unterwegs. Da hat sie ja ihren Weg gefunden in eine lebendige Zukunft.. Danke für diesen erheiternden Beitrag. Herzlich, Anita Ochsner.

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    • Luca Zacchei
      Gepostet um 13:46 Uhr, 14. November

      Vielen Dank Ihnen, Frau Ochsner!

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  • Anke Ramöller
    Gepostet um 12:34 Uhr, 13. November

    Lieber Lucca, humorvoll und hintergründig! Es macht Lust, sich auf eine solche Zukunftsperspektive einzulassen!

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    • Luca Zacchei
      Gepostet um 13:47 Uhr, 14. November

      Merci, Anke!

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  • michael vogt
    Gepostet um 01:41 Uhr, 14. November

    20 minuten warten – bin erstaunt, dass es da noch zeit gibt. digitale spur, digitale schritte, lautsprecherstimme, hintergrund-geräusche auswählen, insekten schwirren hören, die düfte des waldes riechen – bin erstaunt, dass die digitalisierung immer noch andauert. wurde doch längst entdeckt, dass die elektronische wiedergabe eine unendliche reduktion ist und dass man die harze der bäume nur im wald riechen kann.

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  • michael vogt
    Gepostet um 20:53 Uhr, 14. November

    ein indiz dafür, dass wir keine computersimulation sind: dass wir das bild auf dem bildschirm von dem, was wir in natura sehen, von dem, was wir in natura sehen, unterscheiden können. auf die eine seite ist es unendlich anders: unendlich viele schwingungen werden durch die elektronische wiedergabe nicht vermittelt. auf die andere seite ähnlich: wir können zb einen baum, den wir in natura sehen, auf dem bildschirm wiedererkennen. auch die erfahrung, die er elektronisch vermittelt in uns auslöst, ist nicht völlig anders. ob eine computersimulation der welt möglich ist, entscheidet sich nicht zuletzt an der frage, wie die bisher unendlich vielen verlorenen schwingungen nicht verloren gehen könnten. ich tippe darauf, dass deswegen eine simulation nicht möglich ist. existentiell. wir könnten in dieser simulation und als diese simulation nicht l e b e n . ein computer kann in kurzer zeit sehr viele kompositionen herstellen, die tönen, als wären sie von bach. aber er kann sie nicht im originalton wiedergeben. sorry, dass ich so lang werde, aber das ist das, was nie bedacht wird. zur zeit macht die psychische belastung von kindern schlagzeilen – und niemand fragt nach der wirkung der elektronik als solcher (wenn nicht ich es gerade tue 😉 )

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    • Luca Zacchei
      Gepostet um 14:03 Uhr, 15. November

      Herr Vogt, die Sache ist schon verzwickter. Wir könnten getäuscht werden. Beispielsweise, wenn das Bild in Natura uns nur so natürlich „erscheinen“ würde und anders als das Bild auf dem Bildschirm. Eine einfache Programmierung, würde ich meinen. Aber mein Gefühl sagt mir, dass es nicht möglich sein kann. Vielleicht möchte ich getäuscht werden. Ist auf alle Fälle spannender als das Nichts. 🙂

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      • michael vogt
        Gepostet um 18:16 Uhr, 15. November

        nichts, leere, japanisch ku, interpretiert als die abwesenheit von allem, was dem mitgefühl im wege steht, der erfahrung des lebens überhaupt – nicht gerade langweilig

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 11:41 Uhr, 22. November

    Wir, Pflegeteam, haben einwenig weitergesponnen auf Bewohnerinnen und Bewohner „unseres“ Hauses übertragen. Wie es wäre sie könnten auf ihrem Rufmeldesystem nebst den Bedienungen für Türen, Rolladen, Lift… auch Bilder an ihre Wohnzimmerwände projizieren. In welche Welten wir eintauchen würden.. ?
    Eine Bewohnerin stimmte begeistert zu, bei ihr wären wir in Australien! In Phantasie und Erinnerungen baden, ob es denn Leuten besser ginge?
    Wenn dann, nach gestrigen Diskussionen zum digitalen Tag, auch wieder ein physisch anwesender Mensch auftaucht?! 😉 Eine Computer-Pflegefachkraft die diesen am laufen halten kann vielleicht? 😉

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 11:42 Uhr, 22. November

    Wir, Pflegeteam, haben einwenig weitergesponnen auf Bewohnerinnen und Bewohner „unseres“ Hauses übertragen. Wie es wäre sie könnten auf ihrem Rufmeldesystem nebst den Bedienungen für Türen, Rolladen, Lift… auch Bilder an ihre Wohnzimmerwände projizieren. In welche Welten wir eintauchen würden.. ?
    Eine Bewohnerin stimmte begeistert zu, bei ihr wären wir in Australien! In Phantasie und Erinnerungen baden, ob es denn Leuten besser ginge?
    Wenn dann, nach gestrigen Diskussionen zum digitalen Tag, auch wieder ein physisch anwesender Mensch auftaucht?! 😉 Eine Computer-Pflegefachkraft die diesen am laufen halten kann vielleicht? 😉 (kommts jetzt 2 Mal? sorry bitte)

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  • Daniel Brun
    Gepostet um 11:30 Uhr, 27. November

    Sali Luca
    Danke für den spannenden und visionären Beitrag!
    Es wird eine immer grössere Herausforderung werden, zwischen Realitäten und virtuellen Welten zu leben. Der Film Matrix hat dieses Thema schon während meinem Theologiestudium brisant gemacht.
    Die Fragen sind für mich: Wer bin ich wirklich? Wie kann ich erfahren, wer ich wirklich bin? Wieviel Virtuelles hilft mir für die reale Erfahrung der Kraft, die alles im Innersten zusammenhätl? Ich freue mich, wenn wir irgendwann darüber austauschen können.
    Herzlich, Dani

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 01:15 Uhr, 07. Dezember

    Guten Tag Dani
    Deine Fragen richtest Du an Lucca Zacchei, doch wenns recht ist, sie bewegen mich auf Antwortsuche zu gehen und gerne möchte ich hier versuchen..
    „Wer bin ich wirklich und wie kann ich erfahren, wer ich wirklich bin?“ Erst mal glaube ich, dass wir Menschen uns nie ganz „sehen“ erfahren können, ein blinder Fleck bleibt, so lange wir leben. Ich fragte mich schon, ob im Sterben geschieht, dass wir uns Ganz sehen?
    In der Arbeit mit Menschen mit einer Behinderung, meine ich die Erfahrung zu machen, dass um die eigene Lebenskraft zu erfahren, oder neu zurückgewinnen zu können, (in der Gegenwart präsent sein, Handlungen nachvollziehen erkennen oder gar mit aktiv werden können dabei), der Mensch, wir, reale Dinge über körperliche Erfahrungen machen müssen. Erst mal Sinneserfahrungen sinnstiftend machen können. Um überhaupt sich selbst wieder wahrnehmen zu können. Mit realen lebendigen Dingen.
    Lebendiges macht lebendig. Vielleicht können virtuelle Bilder gleichsam dazu verhelfen die innere Kraft, die alles zusammen hält real zu erfahren, sie zu beleben, zum Schwingen bringen, zumindest ein Stück weit, wie eine Brücke zum Leben vielleicht, (dabei sollte es dann m.E. nicht bleiben, sondern daran reale Erfahrungen geknüpft werden) sofern diese Virtuelle Erfahrung mit realen Bildern, bereits gemachten Erlebnissen / Erfahrungen verknüpft werden kann. Das ist dann abhängig von der Biographie eines Menschen. ?

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 08:07 Uhr, 07. Dezember

    und wenn ich heute, jetzt in diesem Moment das Ganze Strahlen des Morgens anschaue, das Licht das sich über alles und alles erstrahlt durchtränkt Himmel Berge Mond und Tal und die Vögel am Himmel
    könnte auch Virtuell sein 😉

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