Reformierte Kalender: Wer ist da päpstlicher als der Papst?
«Du musst ein Update machen»! Geht es Ihnen auch so, dass Sie den Satz so häufig hören und sich fragen, welchen Verbesserungen wir da eigentlich ständig hinterherrennen; und wenn‘s automatisch läuft, verspüren Sie auch das unbehagliche Gefühl bei der Frage, was da eigentlich geschieht? Updaten heisst Aktualisieren und eigentlich Aufdatieren. Was für eine Agenda steckt denn da dahinter? Ist Fortschritt ein permanentes Nicht-Genügen im Hier und Jetzt? Und wenn man auf etwas zurückkommt und es von dort aus neu denkt: Ist etwa die Reformation ein Update nach einem Downgrade (dieses furchtbare Wort gibt es ja auch noch)?
Bleiben wir bei der Software: Kürzlich habe ich mich wieder einmal darüber aufgeregt, dass nach einem dieser aufgezwungenen Updates – es soll ja alles besser werden, so der vorgeschobene Sinn – ausgerechnet vitale Funktionen, wofür man diese Geräte ständig mit sich rumträgt, nicht mehr funktionierten. Konkret in diesem Fall:
Das Sychronisieren des Kalenders auf dem Geschäfts-Computer und jenem auf dem Handy funktionierte plötzlich nicht mehr. Ich hätte das ja jetzt als Chance nehmen können, privates und berufliches Leben wieder bewusster als getrennt wahrzunehmen, aber so einfach ist es denn halt doch nicht für einen, der viel unterwegs ist. Ich war kurzzeitig aufgeschmissen und musste versuchen, die beiden Leben vorübergehend wieder «analog» zu sychnronisieren. – Vorübergehend für wahr: Wenn irgendwo deutlich wird, wie alles vorübergeht, dann ja wohl in einer Agenda, jener linear fortschreitenden Version des zirkulären Verwandten, des Kalenders.
Zugegeben, so vorübergehend wie lästig: eines dieser Erstwelt-Probleme, die zwar Nerven, unnötige Aufmerksamkeit und Zeit kosten; eigentlich auf‘s Menschsein hin als Ganzes betrachtet nur beschränkt Probleme sind, wenn sie denn nicht symptomatisch für eine Lebensführung sind, in welcher Zeit die wichtigste Währung geworden ist, ein Lebensstil, der vielleicht tatsächlich regelmässiger einer Reformation bedürfte. – In den Zwischenzeiten – für die einen zwischen Ewigkeitssonntag und erstem Advent, für die anderen die Adventszeit selbst oder der Raum zwischen Weihnachten und Neujahr – sind ja immer die Chancen, sich Gedanken über das Davor und Danach zu machen. Und so ist es doch auch, wenn man einmal technisch in der Luft hängt. Knopf aus – Kopf einschalten! Wenn ich in meinem zweiten Heimatland Italien etwas gelernt habe, dann dass Kreativität ganz klar auch aus der Agilität erwächst, stets nach Lösungen zu suchen, wenn das System (die Erde auf welcher man wandelt) nicht stabil ist. Menschsein heisst kreativ sein – das traue ich künstlicher Intelligenz übrigens nicht zu, denn sie wird nach meinem Verständnis nie über sich selber nachdenken können und auch mal auf etwas zurückkommen.
Technik soll ja per Definition dem Menschen helfen, sich der Welt zu bemächtigen. Wenn‘s denn so wäre; und wenn ja, welcher? … Ich sehe schon, je mehr ich darüber nachdenke, nicht als Erster, es würde (zu) weit führen und eigentlich wollte ich aus reiner Erzähllust von etwas ganz anderem berichten: Aber es geht tatsächlich um Kalender.
Kalender beginnen am Anfang: An Silvester knallen synchron entlang der Datumslinien die Korken. Für die meisten eine Selbstverständlichkeit, historisch aber überhaupt nicht. Sie wissen bestimmt, dass auch in der heutigen Zeit noch immer – offiziell oder inoffiziell – die verschiedensten Kalender ihre Gültigkeit haben. Mondkalender, der islamische und jüdische Kalender, der chinesische Kalender – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Dieses Jahr war ja übrigens auch noch das 100-Jahr-Gedenken der Russischen Revolution von 1917 – aus russicher Sicht fand sie im Oktober, aus unserer Sicht im November statt. Weit weg? Nicht unbedingt, unser Kalender hat eben auch eine Reformation erfahren – und das hatte auch zu Synchronisationsproblemen geführt; aber lesen Sie selbst.
1701 geschah in Zürich etwas Sonderbares: Nach dem 1. Januar folgte nicht etwa der 2. Januar; man schrieb sogleich den 12. Januar. Was war da geschehen? Man tat es wohl mit etwas Grollen, denn die Idee dazu – auch hier ein Fortschrittsgedanke ganz versteckt – kam aus dem katholischen Süden, genauer gesagt aus Rom und hatte seine wissenschaftliche Berechtigung.
Es scheint, als ob auch die Protestanten Erfahrung damit hätten, sich gegen Neuerungen zu wehren, nur weil sie von den «Falschen» kamen. Das traf in der Zeit lustigerweise auf den Kalender wie auch auf einen Alltagsgegenstand zu, der soeben Europas Tische zu erobern begonnen hat: die Gabel. Kaum jemand isst in unseren Breitengraden heute mehr von Hand, die frühere Normalität ist im «Prozess der Zilivisation» zum anerzogenen Ekel geworden. Die Gabel aber wurde in Italien erfunden und von Leuten wie Martin Luther und Erasmus von Rotterdam als Teufelswerk vom Tisch ferngehalten. – Ob und wo bei uns an Neujahr 1701 das Festmahl mit Gabeln gegessen wurde, weiss ich nicht. Der Datumssprung vom 1. auf den 12. – gleich nach der Feier zurück zum Tageswerk – wurde in Zürich und weiteren Orten auf alle Fälle mit viel Zähneknirschen vollzogen: Es wurde ein neuer Kalender eingeführt.
Der alte – Julianische, nach dem berühmten Cäsar benannten – Kalender kam ebenfalls aus dem Süden, hatte aber einen Schönheitsfehler: Er dauerte im Vergleich zum Sonnenjahr etwas zu lange, was für den christlichen Kalender Folgen hatte: Der Frühlingsanfang verschob sich damit laufend und damit die korrekte Datierung des Osterfestes, auf das sich so vieles im christlichen Lebenskreis bezieht.
Deshalb verordnete Papst Gregor XIII. – damals die einzige weltumspannende Organisation, die solche Dinge tun konnte – , dass die bisher aufgelaufenen überzähligen Tage gestrichen werden sollten; vom 4. Oktober 1582 wurde unmittelbar zum 15. übergegangen. Das Synchronisationsproblem auf meinem Handy ist da wieder schon vergleichsweise klein: Die Verordnung führte über fast 120 Jahren zu roten Köpfen in der Eidgenossenschaft, wo ohnehin ein stets angespanntes Verhältnis zwischen sogenannt Alt- und Neugläubigen herrschte – insbesondere in den gemeinsam verwalteten Gemeinen Herrschaften wie dem Thurgau. Die Reformierten Orte wollten nichts vom päpstlichen Kalender wissen.
Zürich schob vor, dass die Einführung des neuen Kalenders gegen den Landfrieden verstosse und die Religion beeinträchtige. Jahre der Streitereien, Prozesse und Schiedsgerichte folgten: Wie löst man es, wenn die einen die christliche Feste 10 Tage vor den anderen begehen, wann werden Märkte abgehalten, worauf einigt man sich bei Verbindlichkeiten aller Art,?
So wurde zum Beispiel am 22. März 1585 wurde in Weinfelden, im Herzen der Gemeinen Herrschaft eine Landsgemeinde zum Thema einberufen. Die Ratsboten der katholischen Orte wollten das Volk einbeziehen, doch dies ohne Erfolg: Das Volk drohte damit, die Waffen zu erheben und schickte die Herrschaften unverrichteter Dinge nach Hause. Die getroffene Vereinbarung klingt so vorläufig wie typisch «schweizerisch»: In den Gemeinen Herrschaften sollte jede Partei die Feiertage nach ihrem Kalender halten, die anderen sollen dann mindestens die Arbeit meiden. Dass dies kaum zur Ruhe führen sollte, ist offensichtlich, die Geschichten lesen sich heute wie Anekdoten – wenn die einen Gottesdienst feiern, sollen die anderen nicht Gülle ausführen, die Müller verzweifeln an Tagen, an welchen sie offiziell nicht mahlen dürfen … Es erinnert doch auch ein wenig an heutige Debatten, wo einerseits die christlichen Feiertage als für alle verbindlich in Frage gestellt und Feiertage anderer Religionen in den Fokus kommen. Wie und worauf sollten heute Ruhe-, Fest- und Auszeiten synchronisiert werden?
«Du musst ein Update machen»: Zürich hielt sich standhaft bis 1700. Noch etwas Wissenswertes aus Wikipedia: «Seit 1900 (und noch bis 2099) besteht zwischen beiden Kalendern eine Differenz von 13 Tagen, um die der julianische dem gregorianischen Kalender nachläuft. Wenn zum Beispiel laut dem gregorianischen Kalender der 7. Januar ist, dann hat man laut dem julianischen erst den 25. Dezember (daher liegt auf dem 7. Januar gregorianischen Stils das Weihnachtsfest vieler orthodoxer Kirchen: des Patriarchats Jerusalem, Armeniens, Russlands, Serbiens, Mazedoniens, Georgiens und der altorientalischen Kirchen der Syrer, Kopten, Eritreer, Äthiopier).»
Womit auch immer wir rechnen, man muss darüber sprechen. Der offizielle Kalender ist heute eine säkulare Angelegenheit, ein aus der Vernunft erwachsener und in sich sinnvoller Kreislauf, ist vielleicht ein Beispiel dafür, dass es ohne Ökumene, gemeinsam, nicht mehr geht. Manchmal geht der eine, manchmal der andere voran.
Das Reformationsjubiläum hat gezeigt, dass es wohl Unterschiede zwischen den vor und seit 500 Jahren entstandenen Konfessionen und Denominationen gibt. Unterschiede, die es zu akzeptieren und respektieren gilt. Da wird auch kaum eine Synchronisation möglich sein. Dennoch werden künftig gegenseitige Abstimmungen unumgänglich sein, will man sich gesellschaftsrelevant und als Teil der Kultur weiter auf der Agenda halten. Das gilt auch für die Feiertage, die zumindest am gleichen Tag, aber nicht unbedingt auf gleiche Weise erfolgen können.
Meine Synchronisation funktioniert nun wieder. Ich freue mich auf besinnliche Zeiten, die ich mit anderen verbringen kann; wenigstens bereitet der Kalender selbst keine Schwierigkeit mehr, schwieriger ist die Synchronisation der Leerstellen zwischen den einzelnen Menschen geworden, die sich so kaum mehr spontan begegnen, sondern eben «daten» müssen …
michael vogt
Gepostet um 07:44 Uhr, 27. Dezemberja, das jahr nähert sich jetzt seinem tiefpunkt, der für einen peirasmós geeignet ist, für eine prüfung, ob es so weitergehen soll oder wie
Jürg Hürlimann
Gepostet um 10:21 Uhr, 27. DezemberEs gibt „Wichtigeres“ auf dieser Welt als die Synchronisation von Agenden und die Belehrung über die Geschichte solcher Phänomene aus (konfessions-) historischer Sicht. Dennoch danke ich Michael Mente herzlich. Sein Beitrag gibt in amüsanter Weise wertvolle Gedankenanstösse zum neuen Jahr und zum Zeitenlauf. Ich wünsche allen ein erfülltes 2018.
Michael Mente
Gepostet um 13:06 Uhr, 28. DezemberSelbstverständlich – und dennoch eine Frage der Perspektive – gibt es immer „Wichtigeres“. Wir sind uns einig, dass Kalendersynchronisation nicht dazu gehört. Leider aber gefordert wird: Nützlichkeit wird vom heutigen Lebensstil vorgegeben. Nützlich ist, was etwas bringt. Fassen Sie die Hinterfragung in Form von Gedankenanstössen – und das tun wir Historiker/innen, Theolog/innen und Philosoph/innen schliesslich – als Belehrung auf? Dann sollten Sie vielleicht mit einer künstlichen Intelligenz zu philosophieren versuchen 🙂
Ich finde: Gerade in der kalendarischen Zwischenzeit darf auch Platz und Raum sein, über vordergründig „Unnützes“ nachzudenken. Die Fähigkeit dazu macht uns Menschen aus. Dazu ein Buchtipp, dessen Titel bereits für sich selbst spricht: „Nuccio Ordine: Von der Nützlichkeit des Unnützen. Warum Philosophie und Literatur lebenswichtig sind. Deutsch: Graf Verlag, München 2013.“
Ich danke herzlich für die freundliche Rückmeldung zu den Gedankenanstössen. Sie haben Recht; es gibt Wichtigeres. Denken wir darüber nach.
Soeben bin ich nach dem ganzen Weihnachtsrummel wieder einmal über Erich Fromms Zitat „Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe?* gestolpert. Das heutige „Wegwort“ der Bahnhofkirche zitiert die Antwort: „Nichts als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise.“ Erinnert mich doch fast wieder etwas an die Kalenderfrage 🙂
Ihnen allen herzlich alles Gute für ein gutes neues Jahr!
michael vogt
Gepostet um 06:14 Uhr, 29. Dezemberkann aber auch der gewinn eines lebens sein, das nicht haben ist
Anita Ochsner
Gepostet um 09:14 Uhr, 29. DezemberDanke allerseits für die Wünsche ins neue Jahr!
Und diese Zeit in der wir uns, nach unserem Kalender, in der Zeit, wie eine Bekannte es auf einem Spaziergang in dem wir uns begegnet sind ausdrückte: „fühle sie sich wie zwischen den „Räumen“, empfinde ich gleichsam so und wir waren uns einig, diese Zeit sei eine ganz besondere Zeit, in der Zeit wie stille steht. Weihnachten noch im Herzen, vieles erlebt und viel berührt… Zeit zu sein.
Gestern hats geschneit, alles ist weiss, jedes kleinste Ästchen an den Bäumen, wie verzaubert die Natur und auch die Stadt. Zeit „haben“ die Flocken bei ihrem Schweben und Fallen zu schauen. Und die Zeit geht doch – heute der erste Sonnenschein an den weissverschneiten Gipfeln unter tief hohem blauen Himmel
wünsche auch eine gute Zeit, in der nicht haben ist.