Ruhe in Frieden!

Vor fünfhundert Jahren war das Totengedenken ein gutes Geschäft für die Kirche! Die Sorge der Hinterbliebenen um das postmortale Schicksal ihrer Angehörigen wurde vom einzigen Player auf dem Markt gnadenlos ausgenutzt. Man kann es auch freundlicher sagen: Die Kirche entwickelte eine breite Angebotspalette, um individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden und befeuerte zugleich – durchaus milieusensibel! – spirituelle Ängste. Zeitgenössische Künstler schufen mit Bildern von Himmel, Hölle und Fegefeuer eine ästhetische Kulisse, Bussprediger mit rhetorischem Geschick die emotionale Atmosphäre und marktbegabte Kleriker entdeckten immer neue Möglichkeiten für ihre Kunden, materiell wie spirituell Erspartes in himmlische Aktien anzulegen. Der langfristige Gewinn der Investition schien so sicher wie das Amen in der Kirche.

Wäre nur nicht diese verflixte Reformation gekommen! Sie machte das Geschäft mit den Toten kaputt und führte zu einem beispiellosen Kurszerfall der kirchlichen Papiere, insbesondere der sogenannten Ablassbriefe. Religionsökonomisch betrachtet war die Verkündigung der Gnade also ein Preisdumping sondergleichen. Warum sollen sich Kirchenkunden teure Versicherungen, Ritualleistungen und andere Produkte erstehen, wenn sie dasselbe gratis angeboten bekommen? Nicht wer zahlt, sondern wer’s glaubt, wird selig.

Im Rückblick lässt sich aus evangelischer Sicht die Abwendung von der teuren Religion hin zur Glaubensgnade als Erfolg und die Aufhebung gewisser Zwänge als Freiheitsgewinn verbuchen. Alles, was mit dem Tod und den Toten zu tun hat, wurde einfacher und billiger. An die Stelle der komplizierten Riten des Totengedenkens trat die schlichte Abkündigung. Nach der Bestattung der Leichen hatten die Hinterbliebenen – einmal abgesehen von der Grabpflege – keine weiteren Verpflichtungen mehr. Das Gedächtnis der Toten wurde zur individuellen Übung und blieb im säkularen Bereich öffentlich wie kollektiv auf unvergessliche Persönlichkeiten beschränkt. Selbstverständlich kann man noch andere Gründe für die protestantische Nüchternheit rund ums Sterben anführen: den Zug zum Rationalen, die Hinwendung zum Diesseits und die Bekämpfung des Aberglaubens. Dass die Brücken zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten so vehement abgebrochen wurden, hat zudem ganz pragmatische Gründe. Bei Pestepidemien und anderen Katastrophen gab es schlicht zu viele, derer man hätte gedenken müssen. Und so konzentrierte sich in der Folge alles auf das würdige Begräbnis. Und wenn die Inschrift auf dem Kreuz oder dem Grabstein sprichwörtlich dem Verstorbenen ewige Ruhe oder eine Ruhe in Frieden verheisst, hiess das ein Stück weit auch, dass die Toten die Lebenden in Ruhe lassen und nicht mit ihren Wünschen behelligen sollten.

Die Frage aber, was die Hinterbliebenen für die Toten tun möchten, ist damit nicht ein für alle Mal beantwortet. Denn nach der Bestattung hört der Trauerprozess ja nicht einfach auf. Der Schmerz der Trauer kann oder will mit Schuldgefühlen, Hass oder Liebe gepaart die Erinnerung an den Toten am Leben halten. Es ist ein Schmerz der „gepflegt“ und nicht nur betäubt werden will. Dass man theoretisch und theologisch mit Menschen nach ihrem Lebensende nichts mehr Neues anfangen kann, heisst noch lange nicht, dass man automatisch damit aufhören will, über sie nachzudenken oder mit ihnen in einen Dialog zu treten. Was daran noch gesund ist und was schon krank, wird in der Fachliteratur längstens nicht mehr so eindeutig gesehen, wie das zeitweilig der Fall war.

Eine rituell gestaltete Präsenz der Toten ist womöglich weit gesünder als eine heroisch verdrängte Erinnerung! Warum soll man nicht bestimmte gottesdienstliche Orte und Zeiten dafür reservieren? Nichts spricht dagegen! Aber man findet in der eigenen Tradition auch nichts oder herzlich wenig, das dafür spricht, eine Kultur des Totengedenkens wieder einzuführen. Das ist die Kehrseite des protestantische Ritensturms. Sie hat es beim Frühlingsputz ein wenig übertrieben. Es ist darum weder problematisch noch erstaunlich, dass am Ewigkeitssonntag, der einmal Totensonntag hiess, bei uns Reformierten der eine oder andere katholische Brauch wieder Einzug gehalten hat. Dem Himmel sei Dank ist man geneigt zu sagen – solange wir sorgfältig darauf achten, dass nicht neue alte Ängste wieder aufflackern. Die sollen gefälligst zur Hölle fahren.

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9 Kommentare
  • THOMAS GROSSENBACHER
    Gepostet um 07:06 Uhr, 20. November

    Wie erfrischend und treffend zugleich. Was für ein Wort zum (Toten-)sonntag. Danke. oder vielleicht noch treffender MERCI SCHÖN! … sola gratia ist hier nicht zu überlesen.

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  • Catherine McMillan
    Gepostet um 07:57 Uhr, 20. November

    Genial! Geschichte und Gegenwart wunderbar verständlich gemacht. Und ja, es bedeutet vielen Menschen sehr viel, wenn für ihre Verstorbenen an Ewigkeitssonntag eine Kerze entzündet wird. Auch hilfreich der Begriff „Ritensturm“!

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 08:40 Uhr, 20. November

    Auch ich kann diesem sehr fesselnden und witzig geschriebenen Artikel nur meine Bewunderung und Zustimmung aussprechen ?! Danke! Immer wieder spannend ist für mich auch zu merken, wie viel weiter wir uns da in der Spitalseelsorge schon vorwagen mit Ritualen und ritualisierten Angeboten, inneres Erleben – nicht nur Trauer – auszudrücken.

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  • Seraphim Weibel
    Gepostet um 23:49 Uhr, 20. November

    ein bizzeli kritik hüben wie drüber, aber nix was die welt bewegt. *gähn* warum bin ich grad hier ?

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    • Verena Thalmann
      Gepostet um 10:37 Uhr, 21. November

      Hallo SERAPHIM WEIBEL

      Was würde aus Ihrer Sicht die Welt bewegen? Beginnt dies vielleicht manchmal mit Kritik oder hinterfragen? Mir, die ich viel christliches in Frage stelle, gibt es Kraft zur „kleinen Weltveränderung“, wenn ich merke, dass ich nicht allein bin mit: aufhören alles zu beschönigen, aufbauende Kritik zu betreiben – und neues zu wagen.
      lieben Gruss Verena

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  • Georg Vischer
    Gepostet um 10:40 Uhr, 22. November

    Am letzten Sonntag hatte unser Gemeindepfarrer die Angehörigen der im letzten Jahr Bestatteten persönlich zum Gottesdienst eingeladen und gab im Gottesdienst die Möglichkeit, eine Kerze für die Hingeschiedenen zu entzünden. Seit ich vor Jahrzehnten als Pfarrer antrat, wurden im Gottesdienst zum (Kirchen-)Jahresende die Namen derer verlesen, die im vergangenen Jahr bestattet worden waren. In der Tat würdige rituelle Gelegenheiten zum Totengedenken.
    Die Zeit, in der es reformierten Pfarrern verboten war – zur Vermeidung jeder Andeutung eines Totenkultes -, auch nur ein Gebet an den Gräbern zu sprechen, und dies den Schulmeistern aufgetragen war, sind längst vorbei.
    Ich denke nicht, dass wir heute noch unter der Ritualfeindlichkeit der Reformation leiden. Unser Problem ist vielmehr, dass die herkömmlichen Rituale, die sich in einer übersichtlichen Gesellschaft gebildet hatten, in der neuen Unübersichtlichkeit der urbanen Gesellschaft ihre Kraft und ihre Verständlichkeit verlieren. Die Privatisierung der Trauer ist das Problem. Wo findet unsere Trauer ihren Ort? Der Friedhof bei der Kirche im Ortszentrum kann dies für die Meisten nicht mehr sein. Unübersehbar wird Neues gesucht: der Friedwald, das Zerstreuen der Asche in Gewässern oder in liebgewordener Berglandschaft.
    Die Herausforderung an die Kirche ist, eine neue verständliche und evangelische Sprache für Trauer und Trost zu finden. Die kann in der Gestalt eines Rituals formuliert sein. Sie muss aber vor allem die Gemeinde sprachfähig machen zu verständlicher Rede bezüglich der Zeitlichkeit unseres Lebens, zum Mit-Teilen von Trauer und Vertrauen. Kurt Marti hat uns in seinen Leichenreden vorgemacht, wie das gehen kann.

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  • Andreas Imhasly
    Gepostet um 18:51 Uhr, 27. November

    Ich schliesse mich G. Vischer ausdrücklich an: die heitere Skizzierung der Reformatorischen Aufräum-Aktion mit jahrhundertelanger Wirkung scheint mir nur die eine Seite der Medaille zu sein. Heute geht das Aufräumen gesellschaftlich weiter: der Tod als das absolute Ende des Lebens erübrigt an vielen Orten schon ein längeres Sich-Befassen mit ihm, abgesehen einmal von RestRitualen (Ritual heisst wohl weit mehr als nur Rosen ablegen und Wasser verspritzen….), in denen wirklich Trauernde in ihrer Trauer doch allein bleiben. Die christliche Lebensbotschaft will Hoffnung, widerständige und leidensstarke, über das Grab hinaus schenken. Um die Glaubwürdigkeit dieser Botschaft geht es, wenn christliche Riten den Abschied begleiten und gestalten helfen sollen. Es gilt, die Würde des Menschen auch noch im und gegen den Tod zu „bekennen“. Hier stehen unsere Kirchen vor ganz neuen Herausforderungen, jenseits konfessioneller Abgrenzungen oder Anpassungen. Es ist gut, zu wissen, dass R. Kunz hier vielfach engagiert dabei ist…..
    A.Imhasly

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  • Regula Stern
    Gepostet um 00:02 Uhr, 30. November

    Danke für diesen aufschlussreichen Text. Er hat mir manche wichtige Frage aus reformierter Sicht beantwortet.
    Beispielsweise die strenge Art der Valdenser, dem italienischen Totenkult so energisch entgegen zu treten. Mir kam es schon fast zu hart vor.
    Aber auch mir persönlich erklärte der Artikel Vieles. Ich wurde im Tessin, wo ich seit über vierzig Jahren lebe, schon bald mit dem Thema Beerdigungen – oder besser Beerdigungskosten – konfrontiert und so wurde dieses Thema mein „Steckenpferd“,. Für uns nüchterne Reformierte und DeutschschweizerInnen ist manches im hiesigen Bestattungsmarkt fremd.
    Bei einer Bevölkerung von rund 330’000 Einw. haben wir jährlich ca. 3’000 Todesfälle, aber um diese Beerdigungen abzuwickeln, gut fünfzig (50, sic!) Bestattungsfirmen! Aber letztendlich beschweren sich Tessiner und Deutschschweizer über die hohen Beerdigungskosten. Diese überteuerten Beerdigungen werden wegen der Tessiner Gesetzgebung, alles an private Bestatter zu delegieren, erst möglich. Ich erinnere mich (heute) mit Schmunzeln an meine vergeblichen Vorstösse im Vorstand der Konsumentenorganisation, das Thema aufzugreifen, denn es schien mir ein echtes Konsumthema zu sein, weil da viel Geld fliesst und zu verdienen ist. Meine persönliche Schätzung: wohl ein Markt zwischen 20 und 30 Mio CHF jährlich….
    Was antworteten meine Kolleginnen damals unisono? „das kannst Du alles nicht verstehen, denn Du bist Deutschschweizerin und dazu noch protestantisch!“ Ob sie wohl bereits den Ausdruck „Ritensturm“ kannten?…..
    Viel später gab es dann doch noch eine Sonderbeilage zu den Beerdigungskosten in unserer Konsumzeitschrift und diese Ausgabe wurde zum wahren Renner!
    Inzwischen habe ich das Thema Beerdigungen vertieft und habe bereits einige Vorträge zum Thema „Allerletztes“ gehalten, immer vor zahlreichem, interessiertem (deutschsprachigem) Publikum.
    Die Gedanken von Ralph Kunz werden in Zukunft in meine weitere Arbeit einfliessen, denn sie erklären mir die grossen Unterschiede, mentalitätsmässig, zwischen nördlich des Gotthards und südlich davon….. Es ist an uns, eine gute Mitte zu finden, denn ich schätze es sehr, wenn zum Ewigkeitssonntag in unseren Kirchen die Namen der Verstorbenen verlesen und eine Kerze entzündet wird. Auch für eigene Verstorbene, von denen nicht in der lokalen Kirche Abschied genommen wurde. Ich erinnere mich sehr wohl an die Zeiten, als es das noch nicht gab. Eben, reformiert nüchtern.
    Täusche ich mich oder waren es nicht grösstenteils Frauen, die als Pfarrerinnen diese Rituale in unsere reformierten Kirchen eingebracht haben? In meiner Erinnerung waren es jedenfalls meist Frauen, welche – beispielsweise – Kerzen im Gottesdienst eingeführt haben. Das ist doch schön und macht uns nicht weniger reformiert.

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  • Barnypok
    Gepostet um 18:54 Uhr, 28. Dezember

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