Schneegestöber in der Agglo

Wo ich wohne, stehen die Kirchen mitten im Dorf. Die reformierte und die katholische, nebeneinander. Dabei ist das Dorf nicht wirklich ein Dorf. Es ist das, was man, oft mit einem Unterton, „Agglo“ nennt. Also soviel wie nicht Stadt und auch nicht Land. Doch eigentlich vielmehr beides. Stadt und Land gleichzeitig.

Und mitten in dieser Agglo liegen auch die Toten der Agglo begraben. Alle zusammen. Die katholischen und die reformierten sowieso. Auch wenn mich Mischehepaare immer wieder voll Sorge gefragt haben, ob sie im Tod womöglich getrennt werden? Der Friedhof liegt doch um die katholische Kirche! Wo denn dann die die Reformierten lägen? Ich konnte sie beruhigen. Der Friedhof ist für alle da. Einige Muslime liegen auch dort. Und auch die, die keine Konfession haben. Und auch die, die zu einer Konfession gehören und denen das weniger wichtig ist. Und auch die, die nie darüber reden, und auch die, die Sehnsucht haben nach einer Religion, und nicht das gefunden haben, was sie suchen und auch die, die im selber Suchen Erfüllung finden, und auch alle anderen. Einfach alle von dieser Agglo und auch solche, deren Heimat diese Agglo ist. Die Bürger der Agglo.

Bleiben sie das über den Tod hinaus?  Bleibt jemand katholisch, reformiert, suchend, gläubig, Bürger über den Tod hinaus?

Sie liegen dort jedenfalls und manchmal besuche ich sie. Gehe über den Friedhof mitten im Dorf. Denke an einige der Menschen, die ich gekannt habe. Bleibe stehen am Grab eines lieben Freundes, mit dem ich lange Jahre gearbeitet habe, erinnere mich an die Kämpfe, die wir durchgestanden haben, an seine Augen, seine weichen grauen Pullover, an seine Energie. Denke daran, wie er sich noch im Sterben nach einem rauschenden Fest mit Bier gesehnt hat, nach Erotik und nach Fülle. Bleibe stehen am Grab einer alten Frau. Sängerin zeitlebens. Ihre Botschaft begleitet mich: „Trau dich. Wenn du den Mund nur weit genug aufmachst, kommt das Richtige heraus.“ Ich setze mich an das Denkmal für all die Kinder, die die Welt ausserhalb ihrer Mama nie kennengelernt haben. Ich sehe die kleinen Sterne und Steine, die dort liegen. Ich lese die Himmelsworte, die im Denkmal auf die Erde geschrieben sind: Nebelschleier, Morgenrot, Windstoss, Schneegestöber, Sonnenstrahl. … und ich denke an die junge Frau, mit der ich dreimal hier auf dem Boden stand, um Abschied zu nehmen von einer guten Hoffnung. Mal um Mal mit tieferer Verzweiflung, mit stumpferer Trauer, mit weniger Worten und leerer im Herz, mit Klagen in den weiten Himmel. Und mit der ich dann ein Jahr später in die Kirche ging und ihr ganz und gar lebendiges Kind taufte.

Ich  stehe auf dem Friedhof mitten in der Agglo, die Stadt ist und doch nicht und Land ist und doch nicht und stelle mir vor, dass die Menschen hier in Frieden zusammen liegen. Die Glaubenden und die Ungläubigen und die Staunenden, die Wissenden und die Suchenden, die Mutigen und Zaudernden. Die, die das alles sind und doch auch nicht sind und unendlich viel mehr waren und bleiben. Verschwinden nach dem Tod die Begriffe, mit denen wir uns einteilen in solche und andere?

Ist das eigene Sein dann anders, als vor allem die Differenz zum Sein der anderen? Die Agglo, die passt eigentlich ganz gut zum Friedhof. Und umgekehrt. Leben gibt’s mitten im Dorf in der Agglo übrigens auch. Auch vor dem Tod.

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2 Kommentare
  • Anita Ochsner
    Gepostet um 23:32 Uhr, 07. Dezember

    Ja, ich glaube schon, dass sich die Begriffe auf heben, verschwinden, nach dem Tod.
    Wie wäre es denn, das Leben, würden sie sich vor dem Tod auf-heben. Wie ein Vorhang der sich hebt ab und an in allem Schwierigen und wir durch ihn sehen könn(t)en und danach handeln.

    Da kommt mir auch die Musik aus der Agglo, „Agglovolk“, da kehren die Begriffe wieder, doch nur um sie aufzuheben … ?

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    • Anita Ochsner
      Gepostet um 07:43 Uhr, 08. Dezember

      ups Verzeihung bitte, ich meine „agglofolk“ von „drüdieter“. dieser Beitrag erinnert mich an ihre Musik und Texte aus der Agglo in der so viele Möglichkeiten, inspirierende liegen …
      Danke mit hellem lichtvoll versprechendem Gruss, wie`s grad die Dämmerung anzeigt, in den Tag

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