Soll sich die Kirche politisch neutral verhalten?

Am Freitag, 18. Mai 2018, haben auf dem Bundesplatz zwischen 1‘500 bis 3‘000 eritreische Flüchtlinge und auch Schweizerinnen und Schweizer gegen die Praxisänderung des Staatssekretariats für Migration (SEM) demonstriert. Es ging den eritreischen Flüchtlingen um nichts mehr als um ihre Würde, denn durch die Praxisverschärfung werden noch mehr Menschen in die Strukturen der Nothilfe gedrängt. Da sie nicht nach Eritrea zurückkehren können, verelenden sie in unserem Land.

Was wäre die Signalwirkung gewesen, wenn geistliche Würdenträger aus den grossen Landeskirchen sich für das berechtigte Anliegen dieser Menschen eingesetzt hätten? Gottfried Locher als Präsident des SEK zusammen mit Charles Morerod von der Schweizerischen Bischofskonferenz als Redner an diesem Anlass?

Von kirchlichen Vertretern hört man nicht selten, dass sie sich politisch nicht zu stark exponieren möchten. Tatsächlich steht auch unsere Gesellschaft im politischen Leben zu aktiven Pfarrpersonen mehrheitlich argwöhnisch gegenüber. Vielleicht entspringt diese Haltung einem Missverständnis, nämlich der Vermischung von Partei- und Sachpolitik. Offene Parteipolitik durch die Kirche würde zu Polarisierungen, zu Vorurteilen und Etikettierungen führen, die in keiner Weise erwünscht und zielführend sind. Hier sollten sich die Kirche und ihre Exponenten tatsächlich in Zurückhaltung üben. Sachpolitisch aber muss die Kirche immer engagiert sein und wenn dabei Überschneidungen zu Parteiprogrammen entstehen, ist das ein unabwendbares Dilemma. Denn es gibt keine Alternative: Eine politisch neutrale Kirche ist eine nicht mehr existierende Kirche. Sie hätte sich vom gesellschaftlichen Leben abgemeldet, nicht mehr die diesseitige, nur noch die jenseitige Welt im Blick. Sie wäre ein heilsegoistischer Privatklub von «erlösten» Seelen.

Politik geht alle etwas an, weil es die Art und Weise des Zusammenlebens definiert. Wer sich vom politischen Leben verabschiedet, hat aufgehört, die gesellschaftlichen Verhältnisse mitzugestalten. Trotzdem bezeichnen sich heute viele Menschen als apolitisch. Ist es die Komplexität unserer Welt, die sie in den Rückzug auf das Private führt? Oder ist es Zufriedenheit und Bequemlichkeit, die sich nur der leisten kann, der in guten gesellschaftspolitischen Verhältnissen lebt? Oder ist es Resignation, weil der Einzelne in einem Staat nur sehr wenig bewirken kann?

Wer sich als unpolitisch bezeichnet, täuscht sich, denn es gibt weder unpolitische Menschen noch unpolitische Institutionen. Eine unpolitische Position ist gleichzeitig eine politische Aussage: Ich unterstütze damit den jetzigen gesellschaftlichen Zustand, den Status-Quo. Ich verfestige damit die bestehenden Verhältnisse. Auch die Kirche, die zu politischen Fragen schweigt, ist politisch aktiv: Sie zementiert durch ihr Schweigen die gesellschaftspolitische Situation. Durch ihr Stummbleiben und Nichtstun nimmt sie – ob sie es will oder nicht – zwangsläufig Partei. Sie arbeitet damit den Mächtigen und Starken in die Hand und vergisst dabei ihre vornehmste und wichtigste Aufgabe: den Vergessenen, Verdrängten, Kleinen, Ohnmächtigen und Stummen eine Stimme zu verleihen. Eine Kirche, die sich auf Christus beruft, sieht, hört und schützt die Schwächsten.

Eine der für unsere Kirche im Moment dringendsten politischen Fragen ist die des Umgangs mit Flüchtlingen. Populistische Kreise schüren seit Jahren Ressentiments gegenüber Fremden, betreiben Machtpolitik auf dem Rücken der Schwächsten. Fremde sind in einer Gesellschaft seit jeher Projektionsfläche für Ängste und dienen als Sündenböcke für gesellschaftliche Missstände. Eine Kirche, die sich in dieser Frage abstinent verhält, macht sich der Feigheit verdächtig. Oder bleibt unsere Kirche in diesen Fragen politisch indifferent, um ihre Mitglieder nicht zu vergrämen? Das wäre ein Verrat an ihren christlichen Wurzeln.

Es gibt aber mutige Entwicklungen. Der Synodalrat der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn setzte am 19. April 2018 ein Zeichen: In einem offenen Brief an Bundesrätin Simonetta Sommaruga setzt sich die Kirchenleitung mit Nachdruck dafür ein, dass nicht noch mehr Asylsuchende, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können(!), in die Strukturen der Nothilfe gedrängt werden. Unsere Kantonalkirche protestiert entschieden dagegen, dass Menschen in unserem Land verelenden. Hoffen wir, dass dieses Beispiel Schule macht!

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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6 Kommentare
  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 11:08 Uhr, 04. Juni

    Eigentlich beschämend dieses Abseitsstehen jeflicher kirchlicher Würdeträger. Dies wäre doch eine Situation gewesen, um das Wächteramt der Kirche wahrzunehmen!

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  • Anonymous
    Gepostet um 12:45 Uhr, 04. Juni

    Werner Studer-Gross
    Absolut zustimmend. Der Autor lässt aber total einen Lösungsansatz vermissen, wie der Umgang mit unseren eritätrischen Mitmenschen aussehen könnte, in Hinsicht auf Integrierung, Arbeit mit echtem Verdienst usw. Es ist nicht ausser Acht zu lassen, dass die eritärischen Menschen sehr ungeschickt und arbeitsscheu und gesetzesresistent
    sind. Gewiss nicht gerade alle. Sollten wirklich soviele Eriträer in unserem Land würdig leben, braucht es auf allen Seiten die verschiedensten Mitwirkungsarten. Es geht nicht an, dass bei allen Eingereisten Menschen jegliches Landes über einen Kamm geschert werden. Ich kann selber keine Lösungen präsentieren, da das ir nicht gegeben wird. Aber es gibt dafür Leute bei uns. Bitte aber nicht immer nur von den Hilfswerken her, denn dort ist offensicht lich zuviel Befagenheit.

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  • Reinhard Rolla
    Gepostet um 15:16 Uhr, 04. Juni

    Die „Kirche“ soll sich mit aller Kraft für die Vision Jesu von der MENSCHWERDUNG DES MENSCHEN einsetzen, also für die ERFÜLLUNG DER IN DEN SELIGPREISUNGEN GENANNTEN ANFORDERUNGEN für eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit.. Ob man das dann „Politik“ nennt, ist zweitrangig. Obwohl: Dass Jesus sich töten liess, war genau genommen ein höchst politischer Akt. Nämlich die öffentliche Entlarvung von Machtstrukturen, die – zum Beispiel – dazu führen, dass aus unschuldigen „Kleinen“ (Babys) später Henkersknechte und willige Steigbügelhalter für Machtbesessene werden.. Jesu prophetischer Appell: „Wehret dem allem, wehret den Anfängen!“ D a s ist gefordert.

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  • Anonymous
    Gepostet um 14:28 Uhr, 05. Juni

    Der reformierte Kirche wird in der Schweiz in den nächsten Generationen nahezu verschwinden. Ein Blick auf die Demographie zeichnet ein klares Bild.
    Eine politisierte und ideologisierte Kirche wird dazu beitragen, denn gerade kirchliche Amtsträger neigen dazu sich selbst zu überschätzen im Wissen, was denn nun gut und was schlecht ist. Heute hat eine politische Seite das „Gute“ für sich nahezu beschlagnahmt, aber oder das auch immer so stimmt? Das Volk denkt oft anders und ist nicht dümmer und schlechter. Wer einfach das Volk übergeht, der macht erst den falschen Populismus gefährlich und führt die Kirche ins Abseits.

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    • Michael Wiesmann
      Gepostet um 07:17 Uhr, 08. Juni

      Meines Erachtens hat der Autor daa gut auf den Punkt gebracht. Es geht hier nicht um eine „ideologisierte Kirche“ – das wäre in politischer Hinsicht tatsächlich äusserst heikel. Aber das wäre dann ebem Parteipolitik (letztlich).

      Wo aber die Kirche schweigend wegschaut, wo die Kleinen, Marginalisierten und Machtlosen ihrer sowieso schon real kaum vorhandenen Rechte beraubt werdem, lässt sie sich mit ihrem Schweigen letztlich von den Mächtigen gleichschalten (sic!).

      Von daher: Wenn sich wer auf den Schlips getreten fühlt, wo sich die Kirche für die „Geringsten“ unserer Gesellschaft einsetzt, sollte mal daa Gleichnis vom Weinbergbesitzer sowie Matthäus 25 lesen.

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  • Reinhard Rolla
    Gepostet um 17:25 Uhr, 07. Juni

    Es geht nicht um „kirchliche Amtsträger/innen“, auch nicht um „Politisierung“ und „Ideologisierung“, lieber ANONYMOS. Es geht – meiner Überzeugung nach – um die UMSETZUNG DER VISIONEN JESU. Und die sind am klarsten in seinen „Seligpreisungen“ enthalten..

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