Sprachseelig

Die kalten Nächte haben es in sich, auch in Zürich.

„Ja, ich bin Stammgast hier, seit 2011. Ich fiel in ein Loch nach dem Tod meiner Mutter, verlor Freundin, Job und Boden unter den Füssen.“ Bobby sitzt versunken im Stuhl, halb rasiert, Stammgast am Stammtisch vom Café Yucca an der Häringstrasse im Niederdorf.

Die Stadtmission, ehemals ein Zweigwerk der Stiftung Evangelische Gesellschaft des Kantons Zürich, öffnete in diesen Tagen ihr Lokal auch die ganze Nacht hindurch. Sozialarbeitende von den SWS-Werken (Pfarrer Ernst Sieber) und der Stadtmission tragen miteinander diese kalten Nächte durch. Obdachlose, Arbeitssuchende aus Bulgarien und Rumänien, am Flughafen Kloten gestrandete und weggeschickte Irrende, Asylsuchende trudeln zu Hauf während der ganzen Nacht herein und hinaus. Sie sitzen, spielen am Handy, liegen am Boden in der Kapelle oder auf ihren Armen am Tisch und schnarchen den Himmel auf Erden herunter…

„Warum hast du dann damals vom Yucca gewusst?“ Bobby lächelt, lehnt sich vor und flüstert mit verschmitzten Augen: „Unter uns Männern…. Was bist du eigentlich?“ „Pfarrer am Grossmünster, der Kirche mit den beiden Türmen.“ „Oh, ich bin katholisch und von Basel. Doch ich war auch schon bei dir drin. Soll ich trotzdem… Also, unter uns Männern…. Ich stand Monate lang vor dem Yucca und schaute sie an….“ „Du meinst das Bordell?“ „Und dann merkte ich, dass hinter mir ja eine Beiz ist.“ „Die Prostituierten also zeigten dir den Weg ins Yucca?“

„Das sind ganz liebe Frauen. Und weisst du, ich sitze fast jeden Abend da. Man trifft coole Leute. Und du beginnst einfach zu erzählen. Du musst nichts konsumieren, es ist billig. Und vor allem, man ist hier sprachseelig.“ „Sprachseelig?“ „Ja, lose und ghört werde, rede und verstaa werde, das macht mich seelig – ebe sprachseelig.“

„Weisst du, dass diese Beiz von der Diakonie und indirekt von der Kirche getragen wird?“ „Nein.“ „Ist es für dich ein Unterschied, von der Kirche oder von andere Institutionen die Suppe zu bekommen?“ „Nein, sicher nicht, es gibt keine christliche Suppe, nur eine gute Suppe. Und die hier ist super.“

Ich verabschiede mich mitten in der Nacht von Bobby, dem sprachseeligen, in die Wärme aus der kalten Stadt geführt von Frauen, auf die alle zeigen. Draussen vor der Tür stehen ein paar Männer. Sie schlottern, sie reden, sie gestikulieren, sie schauen, die Frauen winken. „Geht doch rein, da gibt’s Suppe und Tee.“

Der Autor ist für diesen Beitrag verantwortlich und er entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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4 Kommentare
  • Anonymous
    Gepostet um 06:36 Uhr, 08. März

    Hammer, Christoph! Danke!

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  • Thomas Faes
    Gepostet um 10:13 Uhr, 08. März

    Danke Christoph. Diesen Text kann ich ganz aktuell gut im schulischen ERG Unterricht (Ethik, Religonen, Gmeinschaft) mit den SchülerInnen anschauen. Wir beschäftigen uns grad mit ‚Glück‘. Und da gibts das Unterthema ‚Seeligpreisungen‘.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 08:29 Uhr, 10. März

    Wenn der Stadtverband sich von einem diakonische Projekt (Suizidnachsorge) trennt, gibts auf diesseits einen Aufruhr der Entrüstung. Wenn aber in einem sehr eindrücklichen Beitrag beschrieben wird, was die Kirche diakonisch konkret tut und kann, ist die Aufmerksamkeit weniger gross … warum? Christoph, ich danke dir ganz herzlich für diesen Beitrag.

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 10:30 Uhr, 14. März

    Nun, auf diesem Blog hat man ja schon viel „aufregendes“ lesen können. Manches Mal war`s mir auch schon so viel, dass ich mich schon fast abmelden wollte. Dann aber überwiegen meine eigene Neugier, auch davon zu hören, wie aus verschiedenen Blickwinkeln Bibeltexte angeschaut werden können. Oder ganz einfach solche Beiträge wie hier zu lesen, Geschichten aus dem Leben und andere die mich berühren bewegen zum Nachdenken bringen.. lassen mich dabei bleiben.

    und nicht zuletzt sind es für mich die eigenen Erfahrungen wie hier im Beitrag erzählt wird, die ich mit Kirche machen konnte, die mich Kirche als ganz wertvoll und wichtig, was sie tut und kann, erleben lassen.
    Dafür danke ich, und gleichsam für diesen Beitrag! 🙂
    Mit herzlichem Gruss
    Anita Ochsner

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