Terror: Wir werden für dumm verkauft
ARD, ORF und SRF haben sich selbst am Montagabend einen Quotenhit und uns ein veritables Volkstribunal beschert. Der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach hat auf der Vorlage seines erfolgreichen Theaterstücks „Terror“ das Drehbuch für das Spektakel geliefert. Angeblich waren wir Zuschauer dabei in der Rolle der Laienrichter, die dem Rechtsspruch durch ein Voting Legitimität zu verschaffen – oder dramatischer: über das Leben eines Menschen zu entscheiden – hatten. In Wahrheit hat man uns für dumm verkauft.
Der Fall
Der fiktive Fall, über den wir zu urteilen hatten, ist rasch erzählt: Der zweiunddreissigjährige, sehr begabte Bundeswehrmajor, Ehemann und Vater eines Kindes, hat gegen den ausdrücklichen Befehl eine von Terroristen gekaperte Lufthansa-Maschine auf dem Weg von Berlin nach München abgeschossen. Dabei hat er 164 Menschen getötet. Dies hat er getan, um zu verhindern, dass das Flugzeug in die ausverkaufte Allianz-Arena gelenkt wird, wo 70`000 Menschenleben bedroht gewesen wären.
Der Ausnahmezustand?
Besonders die beiden Schlussplädoyers warfen all die ethischen Fragen auf, die sich mit diesem fiktiven Fall verbinden: Darf man 164 Menschenleben opfern, um 70`000 zu retten? Darf man Leben gegen Leben abwägen? Hat unsere moralische und juristische Urteilsfindung Prinzipien zu folgen, oder konstituieren sich diese Prinzipien an der Realität, also insbesondere anhand dessen, was im Ausnahmezustand zu tun geboten ist?
Das mag im Theater und besonders bei der Lektüre des Theaterstücks wunderbar funktionieren. In der Eurovision-ähnlichen Anlage des TV-Spektakels freilich geht der Bildungsanspruch, der sich mit diesen klug aufgeworfenen Fragen verbindet, mit der inszenierten und brandgefährlichen Voraussetzung unter, dass wir, das Volk, über Recht und Unrecht zu entscheiden vermögen.
…und schon kann man die Bundesverfassung ändern.
Die TV-Inszenierung hat somit sehenden Auges – wenn auch kaschiert durch einen diffusen Bildungsanspruch – das wichtigste Ordnungsprinzip des Rechtsstaates untergraben: Die Gewaltentrennung. Die gesetzgebende Gewalt darf nicht mit der richtenden Gewalt in Eins gesetzt werden. Plasbergs Frage an Jonas Projer, ob es in der Schweiz auch umstritten sei, eine Frage, die das Grundgesetz berührt, einem TV-Publikum vorzulegen, lässt tief blicken. Noch bezeichnender ist Projers Antwort: „Nein, Herr Plasberg. Diese Frage stellt sich weniger bei uns. Die Schweizerinnen und Schweizer stimmen … sehr regelmässig ab. Und sie stimmen nicht nur ab über das Gesetz, also nur über Details, sondern über das Grundgesetz, also über die Bundesverfassung. Und dazu braucht es gerade einmal 100`000 Unterschriften, das reicht. Und dann muss man noch eine Volksbefragung gewinnen und schon kann man die Bundesverfassung ändern.“
Wir gehören in die Hand des Rechts, nicht umgekehrt!
Hier wird in Zeiten um sich greifenden Populismus suggeriert, dass die rechtsstaatlichen Grundprinzipien in die Hand des Pöbels gehören, anstatt dass dieser durch die Verfassung vor sich selbst zu schützen sei, während wiederum ganz nonchalant auf die Unterscheidung zwischen Legislative und Judikative verzichtet wird: Alle Macht dem Volk! Alle Macht unseren reinen Intuitionen! Alle Macht dem gesunden Menschenverstand!
Dabei wird vorgegaukelt, dass das Rechtssystem in sich derart defizient sei, dass es der korrigierenden Sanktion durch die gesunde Volksmeinung bedürfe. Das ist mitnichten so! Die Wahrheit liegt nicht jenseits des Rechts, sondern in Wahrheit wurde hier das Recht als lächerlicher Pappkamerad aufgebaut, den man getrost und selbstzufrieden abschiessen darf.
Das Recht kann das!
Wir wurden nämlich gezwungen, den Angeklagten des Mordes für schuldig oder unschuldig zu halten. Weshalb eigentlich des Mordes? Hat der Täter besonders skrupellos gehandelt? Waren Zweck oder Ausführung der Tat besonders verwerflich? Spitzfindigkeiten? Für Mord beträgt die Mindeststrafe 10 Jahre, für Totschlag gerademal ein Jahr. Das ist aber wirklich ein Detail, gegenüber der völlig fehlenden Grundunterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld. Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, hat darauf hingewiesen, dass, berücksichtigt man diese Grundkategorien des Rechts, man gar nicht auf eine Lösung ausserhalb des Rechtssystems im Sinne einer überbietenden Moral oder eines Volkswillens angewiesen wäre. Das Deutsche Strafrecht hält im §34 „Rechtfertigender Notstand“ fest:
„Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem andern abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“
Der §35 sichert die Schuldfreiheit sogar bei rechtswidrigen Tatbeständen, insofern man selbst, ein Angehöriger oder eine nahestehende Person an Leben, Leib oder Freiheit bedroht ist. Ob diese besondere Verantwortung per Analogie auch für einen Bundeswehrmajor gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern gilt, wäre zu ermessen.
Der Kampfpilot kann also gemäss Gesetz schuldlos sein: Entweder eines rechtfertigenden oder eines entschuldigenden Notstandes wegen, also sogar noch dann, wenn er rechtswidrig gehandelt hat. Wem das zu kompliziert ist, darf sich auf „Deutschland sucht den Superstar“ freuen aber „Bildungsfernsehen“ im Öffentlich-Rechtlichen andern überlassen.
Stephan Jütte
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 13:46 Uhr, 20. OktoberGuter Kommentar des Geschehens! Die Dilemma-Situation des Films war zwar in ihrer Anlage interessant, doch befasste sich die ganze Diskussion halt wieder mal nur mit den Folgen von solchen Anschlägen. Denn heutige Terrororganisationen wie der IS sind die Frucht vorhergehender westlicher Militärinterventionen. In ihrer Ausprägung sind sie inzwischen genau so modern wie die Massnahmen, welche ihnen nun entgegen gesetzt werden.
Gerne lasse ich hier Judit Butler sprechen in ihrem Buch „Krieg & Affekt“: „Ich denke, dass eine völlig andere Politik entstehen würde, wenn eine Gemeinschaft lernen könnte, ihre Verluste und ihre Verletzbarkeit auszuhalten. So eine Gemeinschaft wüsste besser, was sie an andere bindet. Sie wüsste, wie radikal abhängig sie von der Beziehung zu, vom Austausch mit anderen ist. Ich meine, das würde – oder könnte – ein wichtiges Element auf dem Weg zu einem internationalen Verständnis von Gerechtigkeit sein.“
stephan jütte
Gepostet um 14:12 Uhr, 20. Oktoberliebe frau gisler fischer, herzlichen dank auch für den interessanten hinweis! wie würden sie das auf den beitrag von eduard kaeser beziehen? lieber gruss!
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 16:38 Uhr, 20. OktoberJa, den muss ich zuerst einmal lesen; -geben Sie mir doch ein wenig Zeit!
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 17:06 Uhr, 20. OktoberIch würde dies auf den Beitrag von Eduard Käser so beziehen, als dass er recht hat mit seiner Analyse, dass unter einem schmalen zivilatorischen Firnis die Barbarei lauert und wir als Menschen gehalten sind, Anstrengungen (Djihad!) zu leisten, um diese Gelüste zu überwinden. Ich würde jedoch nicht soweit gehen, von der „Banalität der Barbarei“ zu sprechen. Die ist m.E. doch noch und glücklicherweise zu wenig banal, als es jene des Bösen ist, welche Hanna Arendt ja geprägt hat anlässlich ihrer Beobachtungen beim Eichmann-Prozess. In Bezug auf Ihren Artikel stimme ich mit Ihnen überein, dass die Gewaltentrennung unbedingt einzuhalten ist und das Volk nicht immer Recht hat. So gesehen, fand ich die Antwort von Jonas Projer auf jene von Herrn Plasberg auch ein bisschen gar salopp
stephan jütte
Gepostet um 17:46 Uhr, 20. Oktoberja, ich fand, dass das judit butler-zitat in eine ähnliche richtung weist, wie kaesers aufruf, mit dem dijhad in sich die transformation zu beginnen. und interessant ist ja auch, dass beide vor einem platten relativismus warnen. diese im wahrsten wortsinn selbstbewusste bescheidenheit finde ich sehr beeindruckend.
Georg Vischer
Gepostet um 22:06 Uhr, 20. OktoberFür Stephan Jüttes Beitrag bin ich sehr dankbar. Er stellt deutlich heraus, wo die Problematik dieser Infotainment-Sendung lag: beim plebiszitäten „Daumen rauf – Daumen runter“-Scherbengericht, das aus der ganzen in der Tat komplexen Problematik eine populistische binäre Entscheidung machte. Die Stimme aus der Schweiz war schlicht empörend.
Wir haben in unserem Land Geschworenen-Gerichte mit guten Gründen weitgehend abgeschafft. Aber auch die Geschworenen urteilten nicht unmittelbar aus dem momentanen Gefühl heraus, sondern nach eingehender richterlicher Belehrung und ausführlichen Diskussionen. Die Entgegensetzung: Verfasstes Recht gegen den „Gesunden Menschenverstand“ ist eine üble Irreführung.
stephan jütte
Gepostet um 22:23 Uhr, 20. Oktoberherzlichen dank! ihr schlussatz bringt alles auf den punkt: „verfasstes recht gegen den ‚grsunden menschenverstand‘ ist eine üble irreführung.“
Christian Kobel
Gepostet um 13:12 Uhr, 21. OktoberIch gestehe, dass ich die Sendung nicht gesehen habe, weil sich mir schon auf Grund der ausgestrahlten Werbung die Haare sträubten. Auf Grund der darauf folgenden Kommentare und dem „Abstimmungsresultat“ sah ich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
Ich bin Stephan Jütte für den ausgezeichneten Text dankbar.
stephan jütte
Gepostet um 13:51 Uhr, 21. Oktobervielen dank! bin gespannt ob das ein neuer unterrichtsklassiker wird…