Tyrannei der Likes

Wie viele „Likes“ habe ich schon? Für alle, die auf Facebook aktiv sind, stellt sich die Frage mehrmals in der Woche. Bei LinkedIn schmeichelt die Meldung: „Dein Profil findet Beachtung“. Twitterer haben „Followers“, was impliziert, dass die User alle „Leaders“ sind. Geben wir es zu: Das Verlangen nach Anerkennung und Rechtfertigung (Du bist gut, du machst es richtig) ist 500 Jahre nach Luthers Frage nach einem gnädigen Gott stärker denn je.

„Sola fide“- Rechtfertigung allein durch Vertrauen, nicht durch Werke. Das ist eine Botschaft für heute. Ich kenne Menschen, die richtig „getrieben“ sind, alles allen recht zu machen. Ich bin ja auch einer dieser Menschen. Vielleicht ist mir deswegen die Rechtfertigungslehre so wichtig. Ich brauche sie – sonst gehe ich unter den vielen Erwartungen unter. Dabei haben wir es in der Kirche noch recht gnädig. „Da draussen“ in der Welt geht es anders zu und her.

Inzwischen wird fast alles im Internet beurteilt. Jedes Restaurant, jede Autogarage hat eine Website mit Sternchen, die man antippen kann. Darf man sich einen Fehler oder einen enttäuschten Kunden erlauben? Selbst Prostituierte trauen sich nicht, eigene Grenzen zu wahren aus lauter Angst vor einer schlechten Bewertung im Internet. (Aussage in einem Interview des evangelischen Wochenmagazins „Chrismon“ 04. 2016) Ein Fünftel der Jugendlichen fühlt sich verunsichert, wenn sie sich mit den perfekten Selfies und aufregenden Partyfotos von Gleichaltrigen vergleichen. (Tagesanzeiger am 21.10.2014). Natürlich ist die Sorge um das Aussehen und das Beliebtsein nicht neu. Aber durch Social Media und die Möglichkeit, mit Photoshop Selfies zu faken, ist der Druck gestiegen. Cybermobbing und Sexting haben schon mehrfach zum Selbstmord der Opfer geführt. Wenn so viele Bekannte und Unbekannte über mich urteilen und ein negatives Bild von mir verbreiten, bin ich hilflos ausgeliefert.

Wir haben hier eindeutig ein soziologisches und ein psychologisches Problem. Aber ich finde, wir haben auch ein theologisches Problem: Gründet mein Wert nur in der Meinung anderer über mich?

Vor fast 500 Jahren stellte sich die Frage nur leicht anders: Gründet mein Wert in der Meinung der Kirche über mich? Zwinglis Antwort damals: Nein, unser Wert gründet in Gottes Meinung über uns, und Gott ist gnädig. „Gott belehrt unsere Seele mit der Gnade seines Geistes, dass wir einen so gnädigen Gott haben, dass er uns freundlicher gesinnt ist als irgendein leiblicher Vater, und dass wir ihn offen und zuversichtlich unseren Vater nennen dürfen… Er hat sich nämlich darum so erniedrigt, dass wir ihn erreichen können.“ (Hyldrych Zwingli, Schriften II, 230) Wir brauchen keine Vermittler, keine Likes, keine Freundschaftsempfehlungen, keine fünf Sterne.

Zwingli klagt in diesem Zusammenhang die „wahrheitshassenden Päpstler“ an und sagt: „Ihr macht aus Gott einen unbarmherzigen, unerbittlichen und grausamen Tyrannen, indem ihr behauptet, niemand dürfe ohne einen Vermittler zu ihm kommen.“ Auf die sozialen Medien übertragen: „Ihr mit eurem raffinierten Like-Wahn, ihr macht die Leute von euch abhängig. Ihr versprecht ihnen Glück und Ruhm. Aber ihr seid ungnädig. Ihr vergebt keinen Fehler. Es gibt keine Absolution. Die Bilder und die Shit-Stürme bleiben für immer im Netz.“ So hätte Zwingli womöglich heute gesprochen. Ihm ging es nämlich nicht nur um das persönliche Seelenheil. Es ging ihm um die Aufhebung unterdrückerischer Missstände in der Gesellschaft.

Die Rechtfertigungslehre hatte für ihn ethische, gesellschafts-transformierende Konsequenzen. Durch das geschenkte „Recht Sein“, sind wir frei und befähigt, uns für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen. Damals ging er gegen das Reislaufen, den Ablasshandel und den Kauf von teuren Reliquien vor. Heute sind andere Themen dran.

Wer ein gutes Selbstwertgefühl hat, tritt kühner auf, hat weniger Angst, gegen den Strom zu schwimmen, zeigt Zivilcourage. Denn was soll es, wenn man dafür nicht „geliked“, sondern sogar gehasst wird? „Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und euch das Ärgste nachsagen um meinetwillen…Freut euch und frohlockt“ sagt Jesus in der Bergpredigt.

Wow. Jesus macht stark, ob wir in dieser Welt oder in der virtuellen Welt unterwegs sind.

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15 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 07:06 Uhr, 04. November

    Ich freue mich sehr über diesen Beitrag, obwohl ich glaube, dass ich dieser geliked-werden Kultur bis jetzt erfolgreich widerstehe – nicht im Umgang, aber in der Sache. Für alle, die es aushalten wollen, nicht immer geliked zu werden, hier noch mein „Durchhaltemantra“, RGB 681, 7:

    „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen
    Verricht das deine nur getreu
    Und trau des Himmels reichem Segen,
    So wird er bei dir werden neu.
    Denn welcher seine Zuversicht
    Auf Gott setzt, den verlässt er nicht.“
    Einen schönen Tag allen ?!

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    • angelawaeffler
      Gepostet um 11:39 Uhr, 04. November

      Liebe Barbara
      Deine positiven, wohlwollenden, konstruktiven Beiträge sind Seelenbalsam für mich! Danke 

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      • Barbara Oberholzer
        Gepostet um 12:09 Uhr, 04. November

        Und sofort geliked ?? Dein Kommentar, danke ?

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  • Felix Geering
    Gepostet um 09:37 Uhr, 04. November

    Interessanter Ansatz. Was würde also ein „reformiertes Evangelium“ heuten den Leuten sagen?
    Und wäre dies eine wahrhaftige, hilfreiche Art, das Reformationsjubiläum zu begehen (siehe Blog von gestern)?

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    • Felix Geering
      Gepostet um 09:49 Uhr, 04. November

      „Gott liket dich“ ? 😉

      (Wie deutscht man ein englisches Verb ein in die dritte Person SIngular?)

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  • Catherine McMillan
    Gepostet um 11:24 Uhr, 04. November

    „Gott liket dich“ gefällt mir! Natürlich mit Daumen-hoch-Zeichen.

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  • Anonymous
    Gepostet um 11:32 Uhr, 04. November

    Oder um es mit Paulus zu sagen: Will ich jetzt die Zustimmung von Menschen oder die Zustimmung Gottes gewinnen? Suche ich den Beifall von Menschen? Wenn ich jetzt noch den Beifall von Menschen fände, dann wäre ich kein Diener Christi.
    So überschneiden sich Lesen und Hören an manchen Tagen…

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 15:22 Uhr, 04. November

    Ja, es ist schön „geliket“ zu werden. Es gibt ein gutes Gefühl. Man weiss wo man steht, dass gelesen wurde, wie es ankommt…

    Als ich diesen Blog erstmals „angelinkt“ habe, sah ich, die Beurteilungs- und Bewertungsfelder. Und dachte mir: Ihr macht das auch?!
    Es irritierte mich ein wenig. Ich fragte mich, wo-zu?
    Dass dann unter den Beiträgen noch ein paar hinzu kamen, finde ich gut. Mittlerweile klickte ich ja selbst auch schon an.
    Dennoch, wozu ? Ist das wichtig?
    Wie wäre es ohne „Beurteilungen“?

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    • zhrefch
      Gepostet um 22:09 Uhr, 04. November

      Liebe Frau Ochsner
      Es ist uns sehr wichtig, dass dieser Blog keine Einbahnstrasse ist. Nicht nur die Autorinnen und Autoren sollen die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu sagen, die Lesenden auch. Meist hat man eine Meinung, wenn man etwas gelesen hat, aber zum Schreiben eines Kommentars reicht das, was man sagen möchte, nicht. Dafür haben wir bereits von Anfang an diese Buttons vorgesehen. Man kann damit seine Meinung mit einem Klick äussern und für die Autorinnen und Autoren bilden sie ein erstes, interessantes Feedback. Nach ca. einer Woche merkten wir, dass man oft auch gerne auf einen Kommentar reagieren möchte, deshalb haben wir zusätzlich auch diese Möglichkeit eingefügt.
      Ja, wir finden es wichtig, dass man diese einfache Möglichkeit der Interaktion hat und ohne diese Buttons wäre der Blog nicht mehr so lebendig. Wir glauben, dass das im Interesse der Schreibenden und Lesenden ist.
      Danke für Ihr Interesse und Feedback!
      (Barbara Roth)

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  • Catherine McMillan
    Gepostet um 08:13 Uhr, 05. November

    Ja, wozu die Beurteilungen? Das habe ich auch am Anfang gedacht, und ich muss zugeben, dass es Überwindung kostet, so einen Blogbeitrag zu schreiben, wenn man weiss, dass er in dieser Weise bewertet wird. Aber wenn es dem lebendigen Austausch dient, Augen zu und durch. 😉

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    • Bruno Amatruda
      Gepostet um 13:10 Uhr, 05. November

      Man kann es auch umkehren. Ich hirne zur Zeit an einem Blogpost herum, der möglichst viele „schlecht“ – und „inakzeptabel“ – Klicks generiert… 😉

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  • ja
    Gepostet um 13:04 Uhr, 05. November

    JA,

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  • ja
    Gepostet um 13:05 Uhr, 05. November

    hiken statt liken…

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 18:42 Uhr, 05. November

    Jetzt bin ich grad noch auf dieses Zitat gestossen:
    „You have enemies? Good! That means you’ve stood up for something – something in your life.“ (Winston Churchill)

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 22:23 Uhr, 05. November

    Danke Frau Roth und Ihnen allen :- ))

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