Über 80% der Flüchtlinge in der Schweiz beziehen Sozialhilfe: Können Zahlen lügen?
Sind Flüchtlinge arbeitsscheu und faul? Oder liegt es an Grundfähigkeiten und am Lernwillen? Eine neue aufsehenerregende Zahl scheint diese Vorurteile zu bestätigen: Laut dem Bundesamt für Statistik beziehen über 80 Prozent der Asylbewerber und Flüchtlinge Sozialhilfe. Allerdings spricht die Realität, wie wir sie im Kanton Bern erleben, eine völlig andere Sprache. Die vom Bundesamt für Statistik veröffentlichte Zahl ist nicht nur irreführend, sondern möglicherweise auch falsch – und sie befeuert Ressentiments, statt die Diskussion zu versachlichen. Irreführend ist die Zahl, weil sie suggeriert, vier von fünf Asylbewerbern und Flüchtlingen seien vollständig von der Sozialhilfe abhängig. Das trifft nicht zu: Der überwiegende Teil dieser 80 Prozent werden nur ergänzend durch die Sozialhilfe unterstützt. Denn die meisten dieser Leute arbeiten in Praktika, sind in Ausbildung oder haben Teilzeitanstellungen. Für sie ist die Sozialhilfe lediglich eine Ergänzung zum Lohn, der allein zum Leben nicht ausreichen würde.
Arbeiten ohne Lohn
Möglicherweise falsch ist die Zahl, weil ein beträchtlicher Teil der Praktikantinnen und Praktikanten überhaupt keinen Lohn erhält. Nicht wenige Flüchtlinge arbeiten völlig unentgeltlich in Praktika. Begründet wird das damit, dass ein Praktikum eine Gelegenheit biete, um Deutsch zu lernen. Diese Leute bräuchten zudem eine lange Einarbeitungszeit und eine engmaschige Betreuung. Deshalb sei ein Lohn weder möglich noch nötig. Schliesslich komme ja die Sozialhilfe für die Lebenskosten auf. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass viele dieser Menschen rasch autonom arbeiten und wertvolle Arbeit leisten: im Reinigungsdienst, in der Landwirtschaft, als Hauswarte, in der Gastronomie. Dennoch wird diese Gratisarbeit von der Sozialhilfestatistik nicht erfasst. Zudem: Der Grossteil dieser statistisch als sozialhilfeabhängig erfassten Flüchtlinge ist erst seit 2015 in die Schweiz gekommen. Wie könnte es sein, dass sie nach zwei Jahren bereits derart gut Deutsch gelernt hätten, um zu 100 Prozent im ersten Arbeitsmarkt zu bestehen? Darüber hinaus leben sie bis zum Asylentscheid, also während 10 bis 15 Monaten, in extremer Unsicherheit über ihre Zukunft. Das behindert freies Lernen – wenn dazu überhaupt die Möglichkeit besteht.
Verheerender Effekt
Der gesellschaftliche Effekt dieser Zahl «80 Prozent » ist verheerend. Vorurteile werden bewirtschaftet und Ressentiments zementiert. Es wird gefragt: «Wollen diese Menschen im Schweizer Paradies einfach ausspannen und in unseren gut ausgebauten Sozialstrukturen leben?» Solche Pauschalurteile sind gefährlich. Eine Person zählt dann nicht mehr als Individuum, sondern wird in der Masse quasi entmenschlicht. Ihm wird die Menschenwürde geraubt. Betroffen sind die Schwächsten einer Gesellschaft. Sie werden zum Sündenbock gemacht und geächtet. Diese Stigmatisierung von Flüchtlingen ist für eine Gesellschaft beschämend. Diese Menschen haben alles verloren, sind schon gedemütigt und traumatisiert in der Schweiz angekommen. Es darf nicht sein, dass Flüchtlinge, die Repression, Gewalt und Krieg erlebt haben, hier erneut Verachtung und Ablehnung erfahren. Unbestreitbar ist es eine grosse gesellschaftliche Herausforderung, diese Menschen im Arbeitsmarkt zu integrieren, zumal sie vielfach aus uns fremden Kulturen stammen. Es braucht ein grosses Engagement nicht nur von professionellen Stellen, sondern auch von der Zivilgesellschaft. Es braucht Deutsch-Lernhilfen, Job-Coaches und gute, mitmenschliche Begleitung, damit diese Menschen Teil unserer Gesellschaft werden. Geben wir ihnen ihre Würde zurück.
Dieser Artikel ist am 24. März 2018 im Tages-Anzeiger erschienen.
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Jürgen Terdenge
Gepostet um 10:01 Uhr, 27. MärzDanke für den Beitrag, bin ganz deiner Meinung. Allerdings ist das Bild ein bisschen kontraproduktiv, denn es befördert eben jene Vorurteile, die du im Beitrag ablehnst. Schöne Grüsse, JT
Anonymous
Gepostet um 20:08 Uhr, 28. MärzMein Beitrag lebt auch von der Provokation: Wenn sich jemand nur das Bild und den Titel anschaut, dann habe ich verloren. Wenn jemand nur den Titel und die erste Zeile liest, dann gute Nacht. Wer nicht liest und dabei nicht auch noch denkt, kommt tatsächlich auf falsche Fährten. Liebe Grüsse, Daniel Winkler
michael vogt
Gepostet um 15:40 Uhr, 27. Märzinvaliditätsgrad 80% (nerven), identifikationsgrad mit dem, was ich mache, 80%. hier lügen die zahlen – soweit ich irgendwie sehen kann – nicht. 1987 vertrat ich die meinung: es ist nicht das wichtigste der welt, dass ich in den erwerbsprozess einsteige. heute fühle ich mich voll bestätigt. ich arbeite nicht weniger als andere (kann es mir aber einrichten, so dass es geht) und – soweit ich irgendwie sehen kann – nicht schlechter. aber viel billiger. und habe platz gemacht: so wie ich auf 20 quadratmeter wohne, nimmt auch meine arbeit niemandem eine stelle weg.