Vom Leben in einer Weihnachtskrippe
Jedes Jahr verschläft dieser Bursche Weihnachten – wer weiss, seit wie vielen Jahren. Mein Vater besteht darauf, dass die Figur des schlafenden Jungen auf dem Dach des Stalles platziert wird, in welchem die Heilige Familie gastiert. – Jedes Jahr bauen wir eine grosse Weihnachtskrippe nach süditalienischem Vorbild im Wohnzimmer auf, viele Jahre habe ich das jeweils übernommen und gab mich dem Wunder der Kreation hin: grosse Holzplatte, ein paar Backsteine, der Kampf mit dem Packpapier, bis eine kreisförmig begrenzende Berglandschaft mit Höhle für das Holzhaus entstanden ist, Kleben, Schimpfen über die jedes Jahr unerklärbar verwickelten elektrischen Lichterketten und dann die kathartisch bis stolzen Gefühle darüber, was sich einem wie aus dem Nichts jährlich neu als fertige Landschaft offenbart. Der Feinschliff und die Kontrolle am Ende des Werkes ist dann Vaters Part. Und da gehört mindestens dazu, dafür zu sorgen, dass dieser schlafende Junge wirklich auf dem Dach des Stalles liegt. Im Notfall helfen Klebband oder andere nicht sehr modellgetreue Hilfsmittel nach. Er gehört dahin, basta.
Immer wenn meine Verwandten aus Italien über Weihnachten bei uns gastierten, brachten sie Figuren für die Szenen im Vordergrund mit: Metzger, Gastwirte, Schmiede, Flöten spielende Schafhirten (mindestens fünfmal vorhanden), Weberinnen, Schuhmacher, Mädchen mit Gänsen und dergleichen mehr. Über all die Jahre führte dies zu einem regelrechten Dichtestress auf der begrenzten Fläche. Und da nützte jedes Diskutieren nichts, sie gehören alle auf den Platz – ob doppelte, ungleiche Grössen, egal, realistische Darstellung ist nicht vordergründig. Es geht um Tradition und letztlich besonders darum, ein Stück Heimat auferstehen zu lassen. Ja, diese Plastikfiguren haben es in sich und sie lassen sich jedes Jahr neu überraschen, in welche Landschaft, in welche manifest gewordene Übersetzung der Geschichte sie versetzt werden, bevor sie wieder auf den Estrich wandern. Was geschieht da eigentlich?
Vergegenwärtigungen
Krippen werden zunächst gebaut, um eine Geschichte zu erzählen; eine ganz bestimmte, zusammengesetzt aus den Versatzstücken der Evangelisten und der später gewachsenen Tradition. Aber abgesehen von den zentralen Figuren: Kaum jemand baut das palästinensische Bethlehem, oft hat es Berge, man verwendet Moos und andere Requisiten. Im Dorf meines Vaters, Pomarico, erscheint die Kulisse des historischen Zentrums im Hintergrund. Das erinnerte mich an einen ähnlichen Vorgang in der Malerei: Das Abendmahl kann problemlos in italienischen Räumen stattfinden, auf dem Tisch der verschiedenen Versionen befinden sich Nahrungsmittel aus der Zeit, Region und am Tisch sitzen Zeitgenossen.
Heute tauchen Krippenbilder auf, die Aspekte des Zeitgeists viral verbreiten: Social-Media-Geschichten, Cola-Büchsen mit den Namen der Hauptakteure, kürzlich gar eine «Hippster-Krippe», Gebilde also, die Milieus zu Akteuren macht, die eher zu den Kirchendistanzierten gehören würden. Kurz: Bei der Gestaltung einer Weihnachtskrippe geht es auch um die Übertragung des historisch gewordenen Erzählstoffes in die Gegenwart. Auf süditalienischen Krippen findet das pralle Leben statt; die Weihnachtsgeschichte wird nicht selten zur Nebensache. Die Vergegenwärtigung ist offensichtlich, wenn da berühmte Persönlichkeiten, berüchtigte Politiker mit heruntergelassenen Hosen und andere Anspielungen auf das Zeitgeschehen erscheinen. – Das Wunder wird in unsere eigene Mitte verlagert – sofern man die Geschichte noch weitererzählt.
Einem jedem sein Bethlehem
Ist damit die Tradition des Krippenbaus nicht eine besondere Form der Erinnerungsarbeit? Erinnerung ist ein kognitives Geschehen, das in der Gegenwart abläuft. Es ist nicht ein einfaches Abrufen von Informationen aus einem Speicher, sondern ein sinnstiftender gestalterischer Vorgang. Krippenbau geschieht ritualhaft. Wir wissen genau, wann wir mit dem Aufbau beginnen, wer was besorgen soll, an welchen Terminen Figuren dazu kommen, wie lange die Krippe stehen soll; mit der einen oder anderen Figur verbinden wir Lebensgeschichten und Erinnerungen. Im Ritual des Krippenbaus gestaltet man sich sein eigenes Bethlehem und nimmt vielleicht gar selber Teil an der Weihnachtsgeschichte, erinnert sich an diese und an das, was man mit ihr und dem Fest verbindet.
Keine Tradition war schon immer hier und Krippen im Sinne eines Schaubildes haben sich auch ihrerseits stark gewandelt. Sie sind aber nicht einfach Dioramen, also lehrhaft wirkende Modelle, die man durch die Glasscheibe als ein für alle Mal fixiert betrachtet. Krippen werden in der Regel immer wieder neu aufgebaut. Und so wird im Aufbau, Nachspielen und im Betrachten die zugrundeliegende Geschichte immer wieder neu erzählt.
Lebende Krippen und biblische Kulisse
Als Vorreiter für nachgespielte Krippen gilt ein anderer Italiener, der im Süden grösste Bewunderung geniesst: Franz von Assisi. 1223 soll er eine «lebende Krippe» im Wald nachgestellt haben, um das Weihnachtsgeschehen anschaulich zu erzählen. – Nachgestellte, szenisch inszenierte Krippen, das geschieht heute in Matera jährlich: In einer Art Wandertheater oder dem Kreuzweg ähnlich bewegt sich das Publikum durch die alten Gassen zu Etappen, wo Schauspieler Stationen der Weihnachtsgeschichte nachstellen. Die Altstadt wird zur lebenden Krippe, einer «presepe vivente», und verwandelt sich an verschiedenen Terminen im Dezember und anfangs Januar in das biblische Galiäa.
Und dazu braucht es nicht wirklich viel, was nicht nur ein aufmerksamer Reisender fühlen kann, sondern auch die Filmindustrie entdeckt hat. Pier Paolo Pasolini hatte genau diese archaische Stadt für seinen Monumentalfilm «Das 1. Evangelium nach Matthäus» 1964 als Kulisse verwendet. Enttäuscht war er aus Palästina auf der Suche nach einem geeigneten Drehort zurückgekommen und hat schliesslich Matera entdeckt. Herausgekommen ist ein bibelnaher, aber sehr sozialkritisch unterlegter Film; in der Funktion der Krippe ähnlich geschieht vor dem Hintergrund der lukanischen Kulisse so auch eine Form der Übertragung der biblischen Geschichte in die heutige Zeit. Wer weiss, was einem Regisseur heute für eine Produktion angesichts der aktuellen Fragen in den Sinn kommen könnte.
Christus selbst ist, obwohl er angeblich nur bis Eboli gekommen war (auch das ist hier verfilmt), in der Basilicata schon mehrfach geboren und gestorben. Als ich 2013 in der Kirche von Miglionico das mittelalterliche Holzkruzifix bewundert habe, erzählte mir der Priester stolz, wie Mel Gibson in den Drehpausen («Die Passion Christi») in der verschlossenen Kirche vor diesem Christus betete. Ich bedauere es zwar etwas, dass in all den unzähligen Bibelfilmen, die hier und etwa auch in der verlassenen Stadt Craco gedreht worden sind, in all den Monumentalfilmen, wie etwa kürzlich Ben Hur, nach «Wonder Woman» auch Maria Magdalena, die Stadt Matera, ja die Basilicata selbst nur Kulisse waren, aber nie sich selbst dargestellt hatten. Denn komme ich hierher, werde ich zur Krippenfigur, die sonst auf dem Estrich wartet, und begegne mich mir selbst. Ich vertröste mich darum mit dem Wissen, dass Materas «Sassi» nicht umsonst UNESCO-Weltkulturerbe ist, die Basilicata mit ihrer besonderen geografischen Lage, seit Jahrtausenden ein Kulturlaboratorium ist und damit nicht nur einer Krippenlandschaft gleicht, sondern auch tatsächlich eine der Wiegen der Menschheitsgeschichte darstellt.
Wimmelbild eines Sehnsuchtsortes
Umso schöner, wenn im Krippenbau der im Ausland lebenden Italienerinnen und Italiener etwas von ihrer Heimat aufscheint. Ob die Figuren in Italien hergestellt worden sind, interessiert niemanden. Krippenbau mag vielleicht in unserem Fall auch etwas Kitsch sein, aber wenn, dann im besten Sinne: als nostalgischer Sehnsuchtsort. Ich verstehe den Schmerz der emigrierten Südländer, wenn sie an Weihnachten das Fest nicht im Kreise ihrer Heiligen Familie verbringen können. Das Wort für Krippe presepe meint zwar wie das deutsche die Futterstelle, steht aber auch zum lateinischen saepio, was so viel wie umzäunen, einhegen bedeutet. Suchen nicht viele auch hierzulande so einen abgegrenzten Sehnsuchtsort: zur Flucht vor dem Kommerz und der Hektik, die Weihnachten überschattet, in der Gestaltung einer Idylle vielleicht eine Ahnung der Auszeit, welche diese Tage vom Alltag eigentlich bedeuten würden. Bei aller Geschäftigkeit der unzähligen Figuren: Die Zeit steht still, alles scheint eingefroren, Bewegungen, Handlungen, Gesichtsausdrücke.
Frei nach Loriot: Ein Leben ohne Weihnachtskrippe ist möglich, aber sinnlos. Ich habe es immer etwas genossen, Gästen und Schulkameraden zu erklären, warum wir keinen Tannenbaum, sondern eine Krippe aufgestellt haben. Jedes Jahr eine andere Version eines weihnächtlichen Wimmelbildes. Nur eines bleibt neben der Heiligen Familie gleich: Wir werden nie erfahren, von welchem Sehnsuchtsort der sanftmütig lächelnde Junge auf dem Dach träumt.
Anita Ochsner
Gepostet um 09:09 Uhr, 21. DezemberHier eine Geschichte? Nicht von mir, aus einem Weihnachtsgeschichtebuch. Geschichte Von: Monika Lehmann-Etzelmüller. Ich hoffe sie wird nicht zu lang?!
Der Gorilla in der Krippe
Die Einleitung abgekürzt: …. „Die Krippe stammt aus seiner (des Ehemannes) norddeutschen Heimat und sieht … mehr nach Brunsbüttel-Schmedeswurth“ aus. Von dichtem Wald umgeben und öfter schauen Reh, Hirsch, Hase und Eichhörnchen im Stall vorbei.
„Wir haben uns angewöhnt, dass die Krippe am ersten Advent feierlich hervorgekramt wird, und nach und nach treffen die Bewohner ein.
Als erstes der Ochse als mutmasslicher Dauerbewohner. So dachte ich mir das. Doch immer öfter kam es vor, dass, wenn ich der Krippe den Rücken zukehrte, seltsame Gestalten sich dort niederliessen. Der Elefant ging ja irgendwie noch, aber der Pinguin, der Gorilla, das Stinktier und das Walross, die es sich in der noch leeren Krippe gemütlich machten, das fand ich doch eher unpassend. Doch sooft ich auch einen Platzverweis erteilte und das Getier in die Wildnis zurückschickte, sie tauchten sofort wieder auf, wenn ich der Krippe den Rücken kehrte. Bald herrschte im Stalle eine Artenvielfalt und bedrängte Enge wie auf der Arche Noah.
Es tauchten noch andere Dinge auf, die meiner Ansicht nach nichts im Stall von Betlehem zu suchen hatten: Das Dach des Stalles wurde mit Schnuller dekoriert, das Innere mit Windeln ausgelegt, und neben den Bäumen wuchsen Milchflaschen empor, um die sich die endlich eingetroffenen Heiligen drei Könige ängstlich herum mogeln mussten. Die Schafe bekamen ein Gatter aus Legosteinen. Nur der Stern schwebte unbedrängt über der seltsamen Szenerie – an ihn kam meine Tochter nicht ran.
So ging es nicht weiter. Ich stellte meine Tochter zur Rede. Zwei grosse runde Augen guckten mich vorwurfsvoll an, und meine Tochter sagte: „Mama, du hast selbst gesagt, an die Krippe dürfen alle kommen; also auch Pinguine, Gorillas und Stinktiere.“ Ich stotterte noch ein mattes: „von einem Gorilla war aber nie die Rede“ heraus, aber ich wusste: Ich habe verloren.
Unser Gäste schauen jetzt manchmal etwas indigniert auf unsere seltsame Weihnachtskrippe – aber na ja, was soll man schon sagen? Wenn sie in einem Pfarrhaus steht, wird es schon seinen Richtigkeit haben. Hat es auch. Endlich ist Frieden. “
Der junge Mann auf „Ihrem“ dem Dach: Vielleicht träumt er von einer „grünen Wiese“
Lichtvolle Weihnachten wünsche ich allen und wie ichs gestern so in so schönem Dialekt hörte: „es guats ond glöckhaftiges nüsch Johr ond alls was notz ond guat isch an Lyb ond Seel“
ganz herzlich
anita Ochsner
Michael Mente
Gepostet um 15:21 Uhr, 21. DezemberLiebe Frau Ochsner. Wunderbar. Ich danke Ihnen herzlich für diese schöne Geschichte! Auch Ihnen gesegnete Weihnachten und viele neue Geschichten!
Anita Ochsner
Gepostet um 09:16 Uhr, 22. DezemberDanke Ihnen Herr Mente. Wie sie das machen verbunden mit der Tradition und gleichsam eingebetet in ein Ritual, das auch erwartet und immer wieder neu gepflegt wird gefällt mir sehr. In den Jahren als Waldspielgruppenleiterin pflegten wir das zusammen mit den Kindern zu tun. Draussen in der Natur, die Krippe war dann eine Wurzelhöhle, die musst erst mal gesucht und gefunden werden. Dann kamen die Figuren dazu, Tannzapfen, Steine, Schneckenhäuser, Steckli Moos …. mit Filzüberzogen wurden entsprechende Menschen und Tiere daraus, dazu auch Zwerge oder Feen und Engel, was die Kinder dann halt so einbrachten… doch eben bei diesem umher sein und sich eindenken, eingeben und tun bekommen die Dinge und die Sache erst eine Seele, die wunderbare Bedeutung. Da erst wird etwas wirklich. Dass bei Ihnen dann auch noch die Gäste Figuren mitbringen, das finde ich sehr schön.
Bei uns steht dieses Jahr nur die bereits fertige alte (aus meiner Kindheit) Krippe. Hingestellt und fertig. Da fehlt was. Sie ist eigentlich „leer“. Die Krippe die wir in der Kindheitszeit unserer Kinder aus Gips gemacht haben, habe ich letztes Jahr entsorgt. Ich wollte eine neue, doch die ist nicht geworden. Die selbstgemachten Tonfiguren aus dieser Zeit bräuchten eine! Krippen in denen es eben so lebendig zu und her gehen kann, wie Sie es erzählen, sind doch erst dann richtige „Krippen“, da erst findet sich jeder ein. Schöne Krippenzeit, jetzt ist bald Weihnachten. Nur noch ein paar Tage…
Anita Ochsner
Gepostet um 11:57 Uhr, 22. Dezemberdenk grad dran an unsere „leere“ Krippe den einen und anderen Beitrag zu hängen, frei zum Lesen für Gäste 😉 vielleicht „füllt“ sich dann die Krippe.. ? ,- )
Michael Mente
Gepostet um 10:13 Uhr, 09. JanuarLiebe Frau Ochsner
Heute finde ich in der Büropost ihre wunderschöne Weihnachtskarte mit einer – natürlich italienischen – Weihnachtskrippe vor. Vielen herzlichen Dank dafür. Das hat mich sehr gefreut und berührt. Dies, zumal unsere Krippe, die mich zum obigen Artikel inspiriert hat, nun nicht mehr existiert. So oder so immer wieder einmalig aufgebaut, nun definitiv nicht mehr: Eine Woche nach der Aufrichte der Krippe ist unser Elternhaus leider ein Raub der Flammen geworden. Daraufhin durfen wir aber in unserem Dorf ein wahres Weihnachten und Krippenerlebnis erfahren – ungezählte Solidarität, ein Wimmelbuch der Unterstützung in dieser schwierigen Situation. Einfach berührend.
Anita Ochsner
Gepostet um 21:30 Uhr, 14. FebruarLieber Herr Mente
Erst heute lese ich Ihre Antwort. Einwenig am Feierabendstöbern in „diesseits“, die vielen schönen Beiträge die bis heute zusammen gekommen sind. Da las ich auch mal wieder in Ihrem. Und jetzt eben entdecke ich Ihre Antwort. :- )
Das ist eine tragische Geschichte die Sie, Ihre Familie da erlebt haben. Das tut mir sehr Leid. Dass Sie alle dann soviel ungezählte Solidarität .. Wimmelbuch Unterstützung… erleben konnten, ja…. berührend. so sind doch Menschen in Wirklichkeit. Eigentlich sind wir Menschen doch so gestrickt. Nun, was Sie erlebt haben, ist Wirklichkeit. alles Tragische und alles Wunderbare darin.
Dennoch, wenn Sie erlauben, dazu kommt mir eine Geschichte: Vielleicht kennen Sie Findus und Peterson-Kinder- und Erwachsenen-Bild und Wort-Geschichten? Auch mit Wimmeln… 😉
„Peterson kriegt Weihnachtsbesuch“ von Sven Nordquist; Eine kleine Erzählung von Gegenseitiger Unterstützung… vielleicht ein klein wenig etwas davon, von diesem Weihnachten, was Sie erlebt haben. Auch, wenn schon einwenig der Frühling lockt… so wie heute.
Alles Gute wünsche ich Ihnen, vielen herzlichen Dank.
Anita Ochsner
PS: Ich hoffe, Sie und Ihre Familie werden, oder haben wieder eine Krippe..? mit allen ihren Traditionen! Das wünsche ich Euch – in den Frühling hinein, vielleicht liegt das ja in einer Knospe, die wieder mal aufbrechen will… ? ,- )
Rossella Gualtieri
Gepostet um 09:53 Uhr, 22. DezemberKindheitserinnerungen kommen hoch…..grazie 🙂