Vom Opium des Volkes zu Opiaten des Gehirns

Wie man Religion nicht verteidigen sollte

„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ – Berühmte Worte aus Karl Marx’ Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1844). Sie sind geschrieben in einem Geist, welcher die Aufwinde des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts spürte und die alten angehockten religiösen Vorstellungen aus unseren Gehirnen wegwehte und -fegte.

Wir leben mehr denn je in einem von Wissenschaft und Technik geprägten geistigen Klima. In ihm weht der Religion ein rauer Wind entgegen. Vor allem „neue“ Atheisten oder Agnostiker aus Evolutionsbiologie und Neurobiologie führen einen missionierenden szientistischen Feldzug gegen religiöse Glaubensvorstellungen, so etwa der „Papst“ der Ungläubigen Richard Dawkins, der Insektenforscher E.O.Wilson, der Neurologe Sam Harris, der Physiker Stephen Hawking, der Philosoph Daniel Dennett oder mediale Wissenschafts-Entertainer wie Bill Nye („Bill Nye Saves the World“) oder Neil deGrasse Tyson. Ihre kritischen bis hassvollen Attacken gegen die Religion in toto nähren sich primär von den zweifellos üblen Auswüchsen eines intoleranten, rückständigen und gewalttätigen Fundamentalismus, wobei auch gleich angemerkt sei, dass die oft pauschalisierende Borniertheit der Atheisten jener der Theisten in keiner Weise nachsteht.

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Zwischen diesen Fronten erhält nun der religiöse Glaube ironischerweise Unterstützung aus der Wissenschaft selbst, genauer aus der Hirnforschung. So ist längst bekannt, dass das Gehirn seine eigenen Opiate produziert und ausschüttet, nicht zuletzt, um eine Homöostasis, ein biochemisches Gleichgewicht, aufrechtzuerhalten. Wir benötigen also nicht das von aussen verabreichte Opium der Religion, unser Organismus ist von Natur aus in der Lage, es sich selber zu verabreichen.

Und zwar geschieht dies hauptsächlich über unsere Emotionalität. Sie ist quasi das Sesam-öffne-dich der neueren Hirnforschung. Während diese sich traditionell auf die rationalen kognitiven Kompetenzen des Menschen – also grob gesagt auf die Grosshirnrinde – konzentriert hatte, entdeckten Neurowissenschafler – wie etwa Antonio Damasio, Jaak Pansepp oder Kent Berridge – die eminente Bedeutung der Gefühle im menschlichen Denken und Verhalten. Und so ist das Bild unseres Gehirns als eines komplexen Patchworks verschiedener neuronaler „Betriebssysteme“ entstanden: des alten „Reptilienhirns“ (Sitz motorischer Funktionen und Kampf-oder-Fluchtreaktionen); des „limbischen“ oder Säugerhirns (Emotionen); des Neocortex’ (kognitive rationale Fähigkeiten).

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Der amerikanische Philosoph Stephen Asma hat jüngst den Versuch unternommen, ein versöhnlicheres Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion zu stiften. [1] Rationalität ist vorwiegend mit unserer Grosshirnrinde verbunden, Emotionalität sitzt tiefer in unserem Reptilien- und Säugerhirn. Dieses Hirn ist nicht für höhere kognitive Fähigkeiten geschaffen. Vitale Emotionen wie Angst, Liebe, Wut wurden in der Evolution selegiert, weil sie den früheren Säugern halfen, über die Runden zu kommen. In vielen Fällen bieten Emotionen eine schnellere Lösung von Problemen als rationales Abwägen. Auch dem Menschen kann sein Reptilienhirn oft besser helfen als sein Grosshirn.

Daraus folgert Asma in einer These: „Religion (kann) direkten Zugang zum Gefühlsleben (verschaffen), auf eine Weise, die der Wissenschaft vorenthalten bleibt (..) Es gibt viele Formen menschlichen Leidens, welche jenseits der Reichweite wissenschaftlicher Erleichterung liegen (..) Anders als frühere säkulare Tribute, die der Religion gezollt wurden, bin ich der Meinung, dass wir Religion benötigen, weil sie eine gut erprobte Form des emotionalen Managements darstellt.“

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Ja, sicher, warum nicht? – Dennoch fragt sich, ob Religion und Wissenschaft überhaupt über den Leisten der „Erleichterung“ verglichen werden sollen. Aber es gibt einen gewichtigeren Vorbehalt. Er betrifft die Rolle, die man nun der Religion innerhalb des Bildes moderner Rationalität zuzuschreiben bereit ist. Genauer gesagt: Es findet eine Verhirnung der Religion statt. Da die Wissenschaft die verschiedenen kulturellen Kompetenzen des Menschen immer präziser auf der Gehirnkarte verorten kann, scheint daraus auch eine präzisere, eine eindeutige Funktionszuordnung der Religion zu folgen, nämlich die therapeutische, palliative. Mehr nicht. Religiöse Vorstellungen sind Stammhirnvorstellungen, und deshalb können sie auch nur jene „alten“ Aufgaben bewältigen, welche dieser Hirnteil im Evolutionsverlauf gelernt hat: nicht Erkenntnis, sondern Trost, Leidenslinderung, Ordnung im Gefühlshaushalt.

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Religiöse Praktiken sind – wie Fussballspiele – soziale Interaktionen, und solche Interaktionen eignen sich bekanntlich sehr gut, auf unser Emotionsleben einzuwirken, das heisst, körpereigene Opiate freizusetzen (im Grunde ist Fussball heute das Opium des Volkes). Glaubensmeinungen spielen dabei eine Rolle, aber keine entscheidende. Die Frage „Sind sie wahr?“ peilt deshalb am Kern vorbei. „Die meisten religiösen Vorstellungen sind nicht wahr,“ schreibt Asma, „Emotionen sind nicht wahr oder falsch (..) Das heisst, dass die Beurteilungskriterien einer soliden Theorie nicht die Kriterien (..) einer soliden Emotion sind. Anders als eine solide Theorie, die mit empirischen Fakten übereinstimmen muss, trägt eine solide Emotion zum biochemischen Gleichgewicht bei, welches das biologische Gedeihen fördert.“

Und siehe da: Die Religion findet sich glücklich verstaut im Fach von Biologie und Neurochemie. Aus der Religion mögen durchaus Glaubensvorstellungen spriessen, es handelt sich freilich um Aberglauben mit Placebowirkung. In der gutgemeinten Absicht, der religiösen „Irrationalität“ eine zeitadaptierte Position neben der wissenschaftlichen Rationalität zu verschaffen, relegiert man sie auf die Stufe eines kulturellen Analgetikums, als ob ihre Aufgabe lediglich in der Schmerz- und Leiderlösung bestünde. Wie man weiss, ist das Gutgemeinte das Gegenteil vom Guten.

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Aber weshalb sollte sich in der Religion nicht auch ein eigener kognitiver Anspruch aus der Grosshirnrinde geltend machen, ohne die Erklärungsautorität der Wissenschaft in Frage zu stellen? Hiezu eine Denkanregung zum Schluss. Der kognitive Anspruch könnte darin bestehen, das Verhältnis zwischen Wissen und Glauben immer wieder neu zu definieren, und zwar nicht unilateral von wissenschaftlicher Seite her. Die wechselseitige Ergänzungsbedürftigkeit von Wissenschaft und Glauben würde im Besonderen bedeuten, dass uns die Evolutionsbiologie ein Erklärungshorizont vorgibt, über den wir hinausschauen können. Nicht in dem Sinne, dass wir die Schwachstellen des Neodarwinismus nun als Einfallstor für ein „alternatives“ Schöpfungsmodell interpretieren. Verzichten lässt sich auch auf ein Transzendenzvokabular wie Erlösung, Ursünde, Offenbarung.

Religion kann uns vielmehr den „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ öffnen, um hier den klugen Theologen Friedrich Schleiermacher zu zitieren. Viele Menschen (ich zähle mich dazu) haben keine Mühe mit der Vorstellung, sie seien ein hochkomplexes Stück Materie, aus Protozoen in einem Jahrmilliarden dauernden intelligenzlosen Prozess zu dem geworden, was sie sind – du und ich. Viele Menschen (ich zähle mich erneut dazu) haben aber auch keine Mühe mit der Vorstellung, dass diese ganze Geschichte von der Evolution eben doch nicht „das Letzte“ ist – dass wir noch etwas mehr sind als bloss ein Stück raffiniert organisierter Materie. Was dieses „Mehr“ ist, bleibt freilich ein Geheimnis. Und das ist gut so.

[1] Stephen T. Asma: What Religion Gives Us (What Science Can’t); New York Times, 3.6.2018.

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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3 Kommentare
  • THOMAS GROSSENBACHER
    Gepostet um 08:40 Uhr, 15. Juni

    Danke für dieses wertvolle, auch persönliche Abwägen. Das freut denkerisch und emotional.
    Im Sinne eines ceterum censeo möchte ich erneut beliebt machen, die synonyme Bedeutung von „glauben“ und „vertrauen“ (siehe NT graec.) zu Gunsten des Zweiten wieder ins Spiel zu bringen.
    Es geht ja auch in diesem Artikel um die „fides qua creditur“ und eben nicht um das gegenständliche „quae“, das vielen beim Stichwort Religion immer noch zuerst einfällt.

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    • michael vogt
      Gepostet um 00:14 Uhr, 16. Juni

      glaube ist vertrauen und erkenntnis, in der offenbarung begründet, die dem menschen eine erste dosis an opiaten verabreicht und ihm und ihr so die soziale interaktion ermöglicht. eine reduktion auf vertrauen, trost und das palliative macht religion alltagsuntauglich und unpolitisch. und unkritisch: „fussball ist heute das opium des volkes“ – aber der fussball selbst hat ein opium: das schmerzmittel. so der starke antritt. der schmerz wäre sonst gar nicht auszuhalten. dahinter das leistungsprinzip. da hat religion etwas dazu zu sagen. nicht nur gemüthaftes und an der unendlichkeit orientiertes. ich würde den beitrag gerne auf den kopf stellen. vom kopfstand wird ja gesagt, er lasse einen alles aus einer anderen perspektive sehen. bedenken wir doch, was alles für drogen und „drogen“ wir konsumieren, in was für abhängigkeiten wir leben, auf was alles wir süchtig sind und was für eine zerstörung wir damit anrichten. es empfiehlt sich da meines erachtens nicht, die möglichkeit von wahrheit, erkenntnis und erlösung zu bestreiten. es ginge doch vielmehr darum zu sehen, dass wir im prinzip, in principio, wo die welt geschaffen und neu geschaffen wird, ohne alle diese negativa leben könnten. religion nicht nur als „gemüt einer herzlosen welt“, sondern auch als „geist geistloser zustände“. (karl marx) es geht freilich nicht nur um religion. wollen wir aber das ganze, gehören die religionen auch dazu. das beste opium ist das aus dem gesamten geborene.

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  • michael vogt
    Gepostet um 17:02 Uhr, 15. Juni

    meditation statt medikation, das bewährt sich bei mir seit vierzig jahren. 1000 mal erlebt: wenn ich nicht schlafen kann: eine halbe stunde hinsetzen, hinlegen, tiefschlaf. genau vor vierzig jahren hatte ich die ehre, zur erleuchtung zu kommen. ich sang zur gitarre eine verheissung an den gefangenen jeremia. jeder ton ein spektrum von klangfarben. vollkommene analytische präzision und musikalische intuition. „tiefstes gebet“, sagte ein hörer. der vater der braut – es war auf einer hochzeit – hatte tränen in den augen. ja, emotion, nicht zu gering, aber auch – und wohl grundlegender – wort. seit kant wird religion immer wieder ein opiat genannt – und ist es auch. die alternative zu all dem, was wir uns „von aussen“ genehmigen. umweltfreundlich im vergleich zum aufwand, mit dem wir sonst oft zu emotionen kommen.

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