Vom Sterben keine Spur
Es sind fast acht Jahre vergangen, bis ich in Zürich dem Tod erstmals begegnet bin. Er hat sich nie blicken lassen, sich versteckt oder seine Spuren diskret verwischt. Dabei durchquere ich die Stadt vom HB bis zum Hirschengraben täglich zweimal, gehe zum Zmittag ins Niederdorf oder radle öfter zu einem Arbeitstreffen in eines der vielen Kirchgemeindehäuser ins Seefeld, nach Wipkingen oder auch mal nach Schwamendingen. Nirgends eine Trauergesellschaft, nirgends eine Kerze auf einem Fenstersims, nie ein Auto, das sich als Leichenwagen zu erkennen gegeben hätte. Eine Millionenstadt, geschäftig, chic, pressant tagsüber und gegen Abend schräger und schriller – das pralle Leben der Grossstadt eben. Aber vom Sterben: keine Spur.
Ich bin gänzlich frei von Todessehnsüchten, mag mir und allen Mitmenschen ein gesundes und fröhliches Leben gönnen, aber mit der Zeit wurde mir die Sache unheimlich. Auch in Zürich sterben Menschen. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat. Im Augst waren es 210, im Juli 251, im Januar 321. Letztes Jahr schieden 3400 Zürcherinnen und Zürcher aus dem Leben. Das statistische Amt der Stadt führt Buch darüber und stellt die Zahlen ins Internet. Aber im täglichen Leben, in den Strassen und Gassen der Grossstadt, dort wo eben jene Menschen ihr Leben gelebt haben, bekommt man nichts davon mit, wenn sie sterben. Müsste ich froh sein, dass man mich als Unbeteiligter davor verschont, dem Tod zu begegnen? Ist mir der Anblick eines Leichenwagens nicht zuzumuten? Gehört es zum anonymen Grossstadtleben, dass auch anonym gestorben wird? Ist es reformiertes Kulturgut, um die Toten möglichst kein Aufhebens zu machen? Gehört Trauer und Abschied nur in den engsten Familienkreis, in die Abdankungshalle hinter Kirchen- und Friedhofsmauern? Und ist Diskretion beim Sterben oberstes Gebot? Mich fröstelt.
Vor einigen Wochen fuhr ich am Morgen über den Zähringerplatz und sah schon von weitem, dass etwas anders war als sonst. In der italienischen Imbissbude war kein Licht. Dafür standen Kerzen vor der Ladentür und Blumensträusse vor dem Schaufenster. Ich machte kurz Halt. Auf der Scheibe klebte ein Foto des Besitzers, den ich nicht näher gekannt habe. Ein Nachruf informierte die Passanten, wie der Mann ganz unerwartet aus dem Leben gerissen wurde. Kunden und Freunde hinterliessen kurze Abschiedsnotizen. Einer schrieb „Auf Wiedersehn!“ Ich stieg bald wieder aufs Velo. Der Anblick hat mich traurig gemacht. Gefröstelt hat es mich nicht.
Michael Mente
Gepostet um 11:21 Uhr, 18. NovemberJa, dass der lebensfröhliche Michele so unerwartet nicht mehr war, hat mich auch erschüttert und traurig gemacht. Die Plakate aber haben. ich daran erinnert, wie in Süditalien gestorben wird. Sichtbar. Es werden Plakate aufgehängt. Es findet in der Lebensumgebung Anteilnahme statt, Besuche, Abschiednehmen zu Hause, nicht selten noch immer um den offenen Sarg, dann die respektvolle Trauerprozession zum Friedhof. Das Leben entlang des Zuges steht sprichwörtlich still, alle stehen auf und ziehen die Hüte. Es gehört einfach zum Leben und ist weder katholisch noch reformiert. Das Erlebnis hat mich nachhaltig beeindruckt.
Barbara Oberholzer
Gepostet um 14:51 Uhr, 18. NovemberLieber Michael
Die italienische Abschiedskultur ist – teilweise war, sie geht auch zurück – in der Tat beeindruckend. Wie ist aber zu erklären, dass gerade südländische Angehörige sich mit dem Sterben VOR dem Tod recht schwertun können? Nichts wahrhaben, nichts sehen, nichts davon hören wollen, dass es zu Ende gehen könnte? Bis zum letzten Atemzug auf maximaler Therapie bestehen? NACH dem Tod dann weiss man offenbar, was zu tun ist.. Vorher aber darf es ihn genausowenig geben. Es ist echt interessant, diese Widersprüchlichkeit, wie ich sie im Spital wahrnehme. LG!
Michael Mente
Gepostet um 17:21 Uhr, 18. NovemberIch war ganz angeregt von Christian Schenks Artikel, so dass ich heute meine Reisenotizen zu diesem Thema hervorgeholt habe. Ich werde wohl zu einem anderen Zeitpunkt zu diesem Thema mal was nachreichen. Die virtuelle Reise nach Italien auch in diesem Bereich vertiefen. Denn es berührt mich auch im jetzigen Hier und Sein. Aus dem Bauch heraus: Die Süditaliener fürchten sich vor dem Sterben genauso wie wir und versuchen am Leben zu bleiben. Das NACH dem Tod bezieht sich m.E. auf zweierlei: 1. Das Gedächtnis an den Verstorbenen aufrechterhalten – sie sind immer Teil der gegenwärtigen Gesellschaft. Geh mal auf einen Friedhof, überall die Fotos auf den Gräbern. Sie sind hier. Sie werden in Gespräche, Entscheidungen einbezogen. Letztlich geht es meines Erachtens genau gleich wie beim Heiligenkult – ein paralleler Jahreslauf mit den Vorfahren. Nach dem Versterben wird alles dafür getan, dass es der Person in der anderen Welt, der Übergangswelt, gut geht. Da weiss man genau, was zu tun ist. – 2. So sehr man den Verlust beklagt (und das tat man bis vor kurzem unglaublich expressiv, in Spuren heute immer noch), so tut man doch alles, dass die Toten dort bleiben, wo sie sind. Genau wie bei den Heiligen, die man schön unter Kontrolle hält und sie immer wieder an den Platz zurückversorgt, wo sie hingehören…
Barbara Oberholzer
Gepostet um 17:52 Uhr, 18. NovemberVielen Dank! Meine Vermutungen gehen in eine ähnliche Richtung. Eine ausdrucksstarke Abschiedskultur bedeutet noch lange nicht, dass der Tod seinen Schrecken verloren hat. Schönes Wochenende ☔️?!
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 11:35 Uhr, 18. NovemberIch wusste gar nicht, dass Zürich eine Millionstadt ist? Eine gefühlte wohl; -„little big city“ halt!
Anonymous
Gepostet um 13:11 Uhr, 18. Novemberja, sterben ist eine gunst / dunst / kunst auch in zu-reich!
Verena Thalmann
Gepostet um 14:57 Uhr, 18. NovemberGanz aus dem Herzen gesprochen, lieber Herr Schenk – Herzlichen Dank! Endlich spricht es jemand an, was mich die letzten drei Jahre immer wieder bewegt hat. Wir leben in einer Kultur, wo zwar über den Tod geschrieben, notfalls gesprochen, aber sehr wenig darum herum gelebt wird. Zwei mir sehr nahe stehende Menschen sind gestorben…. Besuche, sind allenfalls üblich wenn ein älteres Ehepaar den Lebenspartner „verloren“ hat. Wenn es aber der Exmann ist — dumm gelaufen — „das ist halt etwas anderes“ — traurig war ich aber trotzdem und es kann einem nicht egal sein, wenn der Vater der eigenen Kinder mit 54 Jahren stirbt.
Wir feiern Geburtstage……noch und noch! Mögen wir Leute, die alljährlich den „Geburtstag“ des Menschensohnes Jesus von Nazareth feiern, wieder lernen auch dem Tod ein Ritual zu schenken, Menschen in Würde sterben zu lassen und Mitmenschen, die in Trauer sind als ganz gewöhnliche Menschen zu sehen. Trauer zulassen ist so oder so heilsam – wenn man auch darüber offen reden kann, ist es noch „lebensbejahender“.
Esther Gisler Fischer
Gepostet um 15:52 Uhr, 18. NovemberLiebe Verena
Danke für deine serh persönlichen Worte!
In der Tat bräuchten wir wieder vermehrt eine „Ars moriendi“; müssten wir die Kunst des Sterbens wieder erlernen und den Tod und Trauernde als Teil des Lebens, auch jenes einer Stadt verstehen.
Barnypok
Gepostet um 08:47 Uhr, 07. JanuarkUEtmF http://www.FyLitCl7Pf7ojQdDUOLQOuaxTXbj5iNG.com
JimmiXzSw
Gepostet um 13:47 Uhr, 19. FebruarjqP6I6 http://www.FyLitCl7Pf7ojQdDUOLQOuaxTXbj5iNG.com