Von Last- und anderen Tieren
Still, nachdenklich, traurig – vom Leben gezeichnet. Ein kleiner Mann aus Bronze mit typischen Gesichtszügen sitzt auf der Piazza Veneto in Matera. «Worauf wartet er?», fragt Christus – «Soweit ich weiss, soll die Figur das Gedenken der Stadt an die Herkunft aus der ländlichen Gesellschaft in Ehren halten[1]», antworte ich. «Das harte und entbehrungsreiche Leben, das Du schon öfters erwähnt hast», sinniert Christus. «Ja. Und mein Vater hat spontan noch eine Erinnerung angefügt, als wir hier einmal gemeinsam Rast gemacht haben: Er hat nie die vielen Taglöhner vergessen, die in seinem Dorf frühmorgens an den entsprechenden Sammelplätzen warteten, bis die Diener der noblen Herrschaften auf Pferden auftauchten und sich die Männer für die Feldarbeit auf ihren Ländereien ums Dorf aussuchten.» Was für ein existenzieller Druck und sozialer Spiessrutenlauf! «Mein Vater erwähnt immer wieder die damit verbundene Demütigung: Wer die Herren im Alltag nicht gut sichtbar – etwa den Hut lüftend oder mit einer Verneigung – grüsste, musste nicht damit rechnen, für Arbeit in Betracht gezogen zu werden.»
Erzähl mir eine Geschichte
Christus nickt, ihm scheinen diese biblisch anmutenden Verhältnisse vertraut vorzukommen. Was sich diese Herren aber herausnahmen, etwa gegenüber den Töchtern der Bauersleute, gehört zu den schlimmeren Geschichten des Dorfes. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie man das alles ertragen kann. – «Magst Du Esel?», fragt unvermittelt Christus. Ich bejahe verwundert. Es ist schon eine Weile her, dass ich einem begegnet bin. In meiner Jugend war das öfters der Fall und sie gehörten wie andere Tiere zum Dorfbild. – «Worauf willst Du hinaus?»
An dieser Stelle erhoffe ich mir eine schöne Geschichte von Christus. Er ist ja ein guter Erzähler, etwa von Gleichnissen, als er damals mit seinen Jüngern durchs Land gezogen war. Ich habe mir die Situation immer wieder gerne vergegenwärtigt und ähnliche im Süden angetroffen, wo man sich Zeit dafür nimmt. Erzählen ist so ein schöpferischer Akt, es schafft Beziehung, unterhält – nicht ausschliesslich im trivialen Sinn – es vermittelt Sinn, Tradition und Werte, gibt Antworten und Halt. – Ein wunderbares Thema.
«Das Volk gibt sich die Antworten auf solche Fragen selbst», meint er. In der Tat: Zu den grössten Schätzen einer lebendigen Kultur gehören ihre Geschichten und Erzählungen. Egal wie sogenannt «fortgeschritten» oder «primitiv» eine kulturelle Gemeinschaft sein mag, jede hat Erzählungen und Erzählformen gefunden, die sich mit denen anderer Gemeinschaften vergleichen lassen.
Fabelhafter Reichtum
Unter diesen haben es mir Fabeln ganz besonders angetan. Ist doch auch die Basilicata Teil jener antiken Reiche, die uns etwa diese Geschichten des Griechen Aesop und unseres Lukaners Horaz überliefert haben. Sind doch Fabeln so etwas wie die Gleichnisse des «einfachen Volkes» und ermöglichen es suchenden und handelnden Menschen, über sich hinauszudenken. In einer bilderlosen Gesellschaft entstehen Bilder im Kopf, ein stets weitervererbter Thesaurus: Es ist ihr lebendiger Bilderschatz, eine Bühne im Gedächtnis, auf welcher sie ihre alltäglichen Themen abarbeiten. Fabeln funktionieren vielleicht in einer zeitlosen Gesellschaft besonders gut und die darin enthaltenen Weisheiten haben oft auch tröstende oder subversive Botschaften.
«Ach, ich Esel! Jetzt weiss ich, worauf du angespielt hast.» Ich erinnere mich an eine Fabel, die zwar verbreitet in Süditalien bekannt ist, vor allem aber gut zur Lebens- und Erfahrungswelt der Basilicata passt. Man erkennt sich sofort wieder und schmunzelt vielsagend, während man das karge und latent ungerechte Leben auf jener Erde zu ertragen hat. Die Fabel geht etwa so:
Der Esel und das Schwein
Ein Bauer hatte verschiedene Kostgänger, darunter ein Schwein und einen Esel. Während das Schwein den Esel dabei beobachtete, wie er sich täglich abzurackern hatte, gab es sich gut betucht und suhlte sich in seinem gemütlichen Leben. Seine einzige Anstrengung bestand darin, sich seinen Wanst vollzuschlagen, ohne Limit, man durfte sich diese Schweinerei ja erlauben, es war ja schliesslich ein Schwein, und genau das war seine «Funktion».
Der Lastesel hingegen erduldete schweigend sein Los: Täglich wurde er von seinem Herrn beladen und machte sich morgens auf den Weg zu den Feldern hinaus und abends zurück ins Dorf. Jeden Tag das gleiche Einerlei. Das karge Heu im Stall war seine Belohnung, die Beschimpfungen hörte er nicht mehr. Ein Leben der Entbehrungen, der Mühen und der Qualen – ganz anders als das Schwein, das sich darin begnügte zu sein.
Wer so vor sich hinsuhlt, kann sich kaum vorstellen, dass es andern anders geht. So kam das Folgende: Als das Schwein eines Tages den Esel so richtig erschöpft und am Ende seiner Kräfte heimkommen sah, riss es das Maul – ein bisschen aus Mitleid, ein bisschen mit Wohlgefallen – süffig auf: «Was für ein Elendsleben muss doch deines sein, keinen Augenblick kannst du ruhen, den Buckel schwer beladen, die Märsche unter der bratenden Sonne. – Also ich, ich könnte so nie leben.»
Als ob der arme Esel nicht schon genug erduldet, aber irgendwie doch auf so eine Bemerkung vorbereitet, gab er gleichermassen süffig zurück: «Hm, sag mir eins, mein Lieber, kann es sein, dass Du nicht derselbe bist wie letztes Jahr?
Und die Moral der Geschicht‘?
Viele Merkmale, die eine Kultur ausmachen, können in ihren Erzählungen ausgemacht werden. Gerade die soeben erzählte Fabel aber kann überall erzählt werden, selbst wenn die beschriebene Welt nicht – oder eben: nicht mehr – der Erfahrungswelt des oder der Zuhörenden entspricht. Und doch funktioniert die Erzählung einer Gesellschaft, die sie aus echter Not kreiert hat, auch für andere, meint Christus: «Herren kommen und gehen.»
«Esel sind gehörig unterschätzte Gesellen, sie sind mir seit meiner Geburt lieb und mögen viel ertragen. Schimpft sie der Volksmund nicht vor allem deshalb dumm, weil sie nicht murren, sondern einfach das tun, was getan werden muss, das man ihnen auferlegt? Und doch regt sich in den richtigen Momenten der Instinkt, der Esel bleibt stehen. Habt Ihr diese innere Stimme noch? Seid ihr euch gewahr, wenn Ihr euch selbst zu verlieren beginnt und in einer so auf den ökonomischen Nutzen ausgerichteten Gesellschaft – mehr denn je und vielleicht eine Spur subtiler – plötzlich nur noch anderer Herren «Nutztiere» seid?
[1] Darauf weist die Inschrift auf dem Sockel der Figur hin, die im Schuljahr 1996/97 vom Lions Club gestiftet worden ist: «… ad onore e memoria dei nostri padri e della civiltà contadina».
Anita Ochsner
Gepostet um 08:39 Uhr, 10. JuliDer Mann fasziniert mich, seine grossen kräftigen Hände! und Arme von harter Arbeit gezeichnet, auch sein Gesicht, wie er hier sinniert. Würde wohl vor dieser Bronze Figur stehen bleiben und betrachten. Welchen Herren und Damen dienen wir? Ich, wenn ich daran denke, dass wir in Zukunft bis zum 67./68. Altersjahr arbeiten sollen? Bis fast 70 Jahre? Welche Arbeitende können das? Diese Arbeit die ich heute ausübe, werde ich bis zu diesem Alter, rein körperlich nicht verrichten können.
Und ich sinniere weiter: Vielleicht sterben körperlich arbeitende Menschen umso früher, wirkt der Hochaltrigkeit der gesamten Gesellschaft entgegen? immerhin ein paar weniger. Vielleicht erreichen so nun mehr diese Menschen ein sehr hohes Alter, in relativ guter Gesundheit, die weniger grossen körperlichen Belastungen ausgesetzt waren in ihrem Leben? Würde sich darin eine Zweitklassen-Gesellschaft aufzeigen? Roboter sollen in der Pflege eingesetzt werden, vielleicht finde ich darin doch auch noch etwas Positives?
Die Geschichte erinnert mich auch an Ferien! An eine Sage wie sie auf der Nordholländischen Insel Ameland erzählt wird: Eine alte Frau führt in ihrer Not und Armut bei Nacht und Sturm ein Schiff in die irre, indem sie ihrer Kuh eine Laterne zwischen die Hörner bindet. Die Kuh führt sie auf die höchste Erhebung der Insel, der Schein trügt, das Schiff kentert, nun geht die Frau am Morgen das angespülte Strandgut einsammeln… https://de.wikipedia.org/wiki/Ritskemooi Ja, zeigt etwas aus der Geschichte der Inselbewohner auf..
michael vogt
Gepostet um 00:29 Uhr, 11. Julidie koan-schulung im zen beginnt meistens mit dem koan mu. ein schüler kommt zu seinem meister und fragt ihn: „hat ein hund buddhanatur?“ der meister antwortet ihm: „mu!“ das heisst wörtlich übersetzt „nicht“. das ist aber falsch, denn alles hat buddhanatur. „frag nicht so!“ sagte ich mir mal, bedeutet die antwort des meisters. ich kam auch darauf, dass es mir nicht möglich ist, das mu durch das mu zu erfahren. damals (etwa 1984) sagte ich zu jemandem: „das kreuz bedeutet nicht, dass du möglichst viel leiden sollst, sondern es ist eine form, die dir ermöglicht, das gegebene leiden zu ertragen.“ es macht mich sozusagen zur formlosen form mu, war mein gedanke, ansatzweise auch meine erfahrung. wie weit hat das mit der geschichte von christus zu tun? oder wie weit geht es um ein archetypisches symbol? oder wie viele stockschläge würde ich für diese geschichte von einem mittelalterlichen zen-meister erhalten? und wie viel brächte mir diese geschichte dabei?