War Zwingli naiv?
Das hat man nun davon. Im Bemühen darum, die Geschichte der Reformation etwas lebendig zu machen, habe ich mich in einem Podiumsgespräch (zu?) weit vorgewagt. Auf die Frage, ob Zwingli nicht auch Fundamentalist gewesen sei, habe ich geantwortet, in dem Sinne, als er sich allein auf die Bibel als Fundament beziehen wollte, ja. Aber das sei nach heutigem Verständnis auch naiv, denn man könne, wie man heute wisse, mit der Bibel ja wirklich alles begründen. Meine Aussage über Zwinglis «Naivität» war also eingeschränkt zu verstehen. Aber natürlich trotzdem irgendwie vermessen, dem Zürcher Reformator in irgendeiner Weise «Naivität» vorzuwerfen, auch wenn wir Reformierten ja keine Heiligen kennen, und gerade Zwingli ja darum bat, ihn aufgrund der Heiligen Schrift eines Besseren zu belehren.
Zwingli hatte wohl unbestritten ein sehr optimistisches Verhältnis zur Bibel. In humanistischer Begeisterung lernte er Altgriechisch, um den vor 500 Jahren durch Erasmus herausgegeben «Urtext» des Neues Testaments zu verstehen. Mit seinem Amtsantritt als Leutpriester am Zürcher Grossmünster begann er, die Bibel öffentlich zu übersetzen und auszulegen. Mit seiner Bibelpredigt begeisterte er Menschen in Zürich und bewegte die Politik, den Stadtstaat Zürich im Sinne der Bibel umzubauen. Dabei kam es gerade nicht zu extremen Erscheinungen der Reformation wie anderswo. Selbst ein «Bildersturm», den man sich, inspiriert von der Tempelaustreibung Jesu, ziemlich heftig vorstellen kann, ging weitgehend anständig organisiert vonstatten. Zwingli mit seinen Leutpriesterkollegen und der Rat reformierten Stadt und Kirche Zürichs zwar innert kürzester Zeit, aber mit grossem politischen und geistlichem Geschick. Also ganz bestimmt nicht «naiv»! Vielmehr optimistisch und mutig: Im alleinigen Vertrauen auf Bibel und Christus verliess man die römisch-katholische Heilsanstalt. Und diese Reformation aufgrund des Wortes Gottes veränderte Kirche und Gesellschaft nachhaltig und mit weltweiter Wirkung.
Optimistisch war auch Zwinglis Vision, dass die uneingeschränkte Predigt des Wortes Gottes letztlich alle Eidgenossen überzeugen würde. Sie müsste eben einfach nur zugelassen werden, und dann würde sich das Wort Gottes schon selber durchsetzen. Aber genau das verweigerte die «altgläubige» Mehrheit an der eidgenössischen Tagsatzung, sowohl in den «altgläubigen» Kantonen als auch in den gemeinen Herrschaften. Zürich wurde im Gegenteil mit seinem reformierten Glauben politisch isoliert, und damit geriet auch Zwinglis Vision in die Defensive. Da liegt dann auch einer der Gründe für die Kappeler Kriege, von denen der zweite dann eben gerade nicht mehr mit dem nötigen Geschick geführt wurde, und Zwingli darin sein Leben verlor. Der Optimismus hatte sich in Pessimismus verkehrt, wobei Zwingli sein Leben verlor, und die Reformation mit dem Nachfolger Zwinglis, Heinrich Bullinger, eine Art Neustart machen musste und konnte.
Während die einen die Bibel also lieber nicht zu genau hören wollten, nahmen sie die anderen scheinbar noch wörtlicher, seien es die Täufer mit ihren theologischen und politischen Ansichten, oder auch Luther in seinem Abendmahlsverständnis. Mit beiden Richtungen entzweite sich Zwingli, was eine enttäuschende Erfahrung sein musste: Anstatt zu verbinden, trennte die Predigt des Wortes Gottes. Ob Zwingli in dieser Hinsicht eben zu optimistisch war? Er verliess sich auf den «Geist», der in diesen Worten und Buchstaben der Bibel wirkte und das Verstehen anleiten sollte.
Zwingli hatte ein grosses Vertrauen in den Heiligen Geist. Wenn man nur wirklich auf den Geist in den Worten der Bibel zu hören bereit war, dann versteht man sie schon. Mag sein, dass das in einem gewissen Sinne «naiv» ist, aber zugleich genau die Haltung, die wir alle einnehmen sollten, wenn wir die Bibel lesen und hören: Was will Gott mir sagen? Wo will er mich ganz persönlich ansprechen, und wo erwartet er meinen Einsatz zum Wohl der Mitmenschen, der Gesellschaft, der ganzen Schöpfung? Wenn ich, wenn wir da ganz ehrlich, und in diesem Sinne, ganz «naiv» sind, dann wissen wir es. Oder? Hand aufs Herz! Solche «Naivität» wünsche ich mir und uns!
Barbara Oberholzer
Gepostet um 08:48 Uhr, 05. NovemberDass auch Zwingli massgeblich in das Wirken von Gottes Geist vertraute, wusste ich in dieser Deutlichkeit nicht. Danke für diese Schliessung einer Bildungslücke! Sympathischer Zwingli. Ein anderer Reformator kommt mir da auch noch in den Sinn: Thomas Müntzer, erst Weggefährte, am Schluss erbitterter Gegner Luthers, eine Zeitlang in der DDR noch gewürdigt, heute wohl etwas in Vergessenheit geraten. Auch für ihn war es mit sola scriptura nicht getan, die göttliche Inspiration gehörte zwingend dazu. Dabei stellte er bereits erstaunlich moderne Fragen: Auch andere Religionen zB haben ihre heiligen Schriften – wie können wir wissen, dass unsere die richtige ist? Und Gottes Stimme könne auch ausserhalb von Kirche und Bibel gehört werden. Und wie Zwingli starb er kämpferisch, hingerichtet während der Bauernkriegen. Es waren interessanterweise die Schriften Müntzers, die bei mir noch im Germanistikstudium die Faszination an theologischen Fragen weckten.
Sowohl Zwingli wie Müntzer waren keine „Verwalter“ – im Gegensatz zum späten Luther, der – vllt auch kein Zufall – eben nicht jung starb und so in der Lage war, die Reformation zu stabilisieren. Es geht mir hier nicht um das Ausspielen des einen gegen das andere. Zwingli und Müntzer aber lebten ihre Ueberzeugungen, mit allen Irrtümern und Risiken, die das bergen mag Wobei wir da auch bei unserm Ordinationsgelübde wären: „…. Durch mein Leben zu bezeugen ….“ – mit Gottes Hilfe!
Anita Ochsner
Gepostet um 09:34 Uhr, 05. NovemberGuten Tag Herr Michel Müller
Sie sprechen hier von Zwingli. Eine Frage die mich immer wieder beschäftigt, wenn ich von Zwingli lese: Hat sich Zwingli nicht auch verrannt? In diese Vorstellung, dass doch allen möglich sein muss, „die uneingeschränkte Predigt des Wortes Gottes“ zu hören und dies „letztlich alle Eidgenossen überzeugen würde.“
War Zwinglis Tod beabsichtigt? Wurde Zwingli nicht beschützt in diesem zweiten Kappeler Krieg? Hat man das „Schicksal“ entscheiden lassen? War eine Art Neustart nicht gar notwendig? Und mit Zwingli (un-)möglich? Erst dann konnte mit Bullinger wie neu weitergegangen werden.
Wenn hier auf diesem Blog von Kirchendistanzierten gesprochen wird, fühle ich mich jeweils angesprochen, obwohl ich mich doch in den letzten wenigen Jahren in und um Kirche bewege.
Dass ich der Kirche näher gekommen bin, hat mit dem Wie mir Menschen aus Kirche begegnet sind zu tun. Wo Kirche ankommt ist eine Frage, doch darin steckt für mich das Wie. Hier lebt für mich der Geist. Ist es naiv zu glauben, dass wenn Menschen aus Kirche, das leben was sie glauben, in ihre Handlungen Begegnungen mit Menschen einfliessen lassen, und so für andere erleb- und erfahrbar wird, dass hier ein Funke in anderen gezündet wird? Und Menschen nur daher hörend werden können und sich der Kirche, dem Glauben neu zuwenden können?
Erst dadurch erst mal annehmen – können. So ist das Wo Kirche ankommt überall, in jeder Begegnung, an einem Anlass in einem Angebot. (Soviele Angebote wie es Lebenswelten gibt, ist für eine einzelne Kirchgemeinde kaum möglich anbieten zu können. Ausser Kirchgemeinde Plus macht es weitgehend möglich) Doch in jeder Begegnung kann sich das Wie zeigen. Und darin ein Prozess, wie ihn Angela zur Auseinandersetzung mit Bibeltexten aufzeigt, ausgelöst werden in Menschen. Dieser Prozessbeschrieb geht auch in Bezug auf Glauben und Kirche. Darin können Festgefahrene Vorstellungen neu betrachtet, überdacht werden. Infragestellungen aufkommen. Ein Forschen auslösen.
Zusammenfügen?: Ich für mich füge aus diesem Blog die Beiträge von der Sprache der Kirche, dem Erlebnisbericht vom Besuch des Dalai Lama, und wie schon hier angesprochene zusammen.
Sie gehören für mich zusammen. Ich meine jede Pfarrperson soll ihre eigene Sprache sprechen, bei mir kommen die Worte dann an, wenn ich merke, dass diese selbst hörend ist. Und als Mensch selbst auf diesem Weg. In Vertrauen zu Gott. Wenn ich (wie auch schon) gefragt werde bist du gläubig, stockt es in mir. Da sind Mauern und Festes. Da geht nichts mehr. Wie kann ich sagen ich bin gläubig? Heisst das für immer? Wie kann ich das wissen. Braucht es eine Entscheidung? Muss man sich entscheiden? Zum Glauben? Für mich ist das ein hineingehen im Vetrauen, in Zweifeln… Im Glauben unterwegs zu sein ist für mich in Bewegung sein. Da finde ich mich im Prozess im Beitrag „Verstehen als Lebenslanges Lernen“ wieder. Dazu bin ich angewiesen auf Menschen die darin Erfahrung- Und Wissensvorstand haben. Und mich anleiten. Sei es in einem Gottesdienst oder anderswo. Um den Geist in der Bibel verstehen und hören zu können, muss er mich durch Menschen die bereits darin unterwegs sind ansprechen. Das Wo kann überall sein. Menschen aus Kirche sollen aus ihren Gärten kommen und an unsere Feuer sitzen, so können wir an Eure (unsere gemeinsame) kommen.
Dazu gehört das Wie der Kirche, der Menschen die in Kirche tätig sind, dadurch können Menschen angestossen werden. Hier fliesst der Geist von Mensch zu Mensch. In Beziehung zu einander. Auch daran glaube ich fest. Ist das naiv?
Anonymous
Gepostet um 10:27 Uhr, 05. Novemberalso ich finde gar nicht! und wenn schon, dann wäre es eine schöne naivität, die in jeder begegnung, noch der verquertesten, gottes guten geist erwartet. vielleicht gibt es denfür uns ja gar nicht anders, als dass wir ihn erwarten…
Anita Ochsner
Gepostet um 11:32 Uhr, 05. NovemberDanke …auf dass er immer wieder ankommt. :- )
bestimmt auch am morgigen Spitalgottesdienst, zudem sich 18 Jungs und Girls, im Konfirmandenjahr, angemeldet haben.
So werden wir ganz viele Verschiedene sein die hier zusammen kommen, mit Patienten und Leuten von Aussen. In dieser geführten Sprache die hier gesprochen wird, vielleicht etwas langsamer, etwas weniger Worte doch nicht weniger am Geist und Wort gesprochen, finde ich Zugang. Und manchmal scheint mir, dass gerade da wo Menschen verletzlicher sind oder wo ganz normal andere hinzukommen, der Geist in uns und im Raum aufkommt, auffüllt und nährt.
Felix Geering
Gepostet um 14:32 Uhr, 05. NovemberJede grosse Idee braucht, um Wirklichkeit zu werden, einen charismatischen Leiter, der die richtigen Dinge tut, und einen trockenen Analytiker, der die Dinge richtig tut. Zusammen sind sie unschlagbar. Wir können den Analytiker auch als Verwalter oder „Chefideologen“ bezeichnen, und es ist sein Los, dass sich spätere Generationen vor allem an den charismatischen Leiter erinnern: Paulus verband die Botschaft Jesu mit der jüdischen (und griechischen) Dialektik, Bullinger „machte die Reformation fertig“, Luther meisterte beide Rollen – Leiter und Verwalter – nacheinander.
Die Tragik der Reformieten Kirche ist, dass sie vor lauter wissenschaftlichem Hinterfragen und im Bestreben, es allen Leuten recht zu machen, ihre Mitte verloren hat. Resultat: Die Reformierte Kirche verwaltet nur mehr ihre Traditionen; der Geist, der sie einst inspirierte, ist über weite Strecken abhanden gekommen. Die Reformierte Kirche muss wieder lernen, geistgeleitet hinzustehen, sich festzulegen und zu sagen: „So ist es!“
Natürlich – es gibt viele reformierte Menschen, die genau das tun, die hinstehen und für etwas stehen und überzeugend sind. (Michel Müller erlebe ich auch so.) Aber die Kirche als Ganzes, die Kirche als Institution, erlebe ich als indifferente, unentschlossene Verwalterin ihrer selbst.
Ich wünsche uns, dass unsere Kirchen wieder erlebbar geisterfüllt werden und uns „charismatisch leiten“. Der Geist macht lebendig!
Zwingli wusste etwas hiervon. Ich finde, Zwingli war nicht naiv. Oder höchstens im Sinne des Jesuswortes „werdet wie die Kinder.“
Jim West
Gepostet um 14:17 Uhr, 06. NovemberA very engaging essay. Thanks for posting it.