Was für ein Theater!
Da ist Agnes, die heimatlos gewordene Ex-Nonne aus dem Kloster Töss. Das Kloster wurde in der Reformation aufgehoben. Da ist Hilarius, der zum Zwingli-Prediger wurde, aber noch nicht alle Eierschalen des alten Glaubens abgestreift hat. Da sind der Söldner Arbogast und seine Verlobte Leni. Auch in Zeiten der Reformation dürfen sie nicht heiraten, weil sie Leibeigene verschiedener Herren sind. Und da ist Jakob, der Schildermaler, dessen aufbrausendes Temperament ihn für die Rolle des radikalen Täufers prädestiniert.
Eine bunte, schillernde Truppe also, zumal sie alle immer wieder aus ihrer Rolle fallen, um in andere zu schlüpfen.
Zusammengehalten wird das Ganze von der beherzten Näherin Dorette. Angesteckt vom Reformationsvirus will sie Zwinglis Botschaft verbreiten. Er selber ist schon tot, gestorben in der Schlacht in Kappel. Das Fahrtheater, mit dem sie über Land ziehen, um in den Dörfern mit Szenen und Balladen aufzuspielen, soll es richten.
Der Vorhang besteht aus einzelnen Stoffbahnen, hinter die man verschwinden oder aus denen man wieder auftauchen kann. Der weggezogen wird, um den Blick auf die Bühne freizugeben und zugezogen wird, um Bilder, zum Beispiel der Zürcher Landschaft, darauf zu projizieren. Das Pferd, auf dem Albert I. stirbt, wird am Schluss der Szene zusammengeklappt und abtransportiert. Der Helm wird zur Trommel, wenn die Schlegel auf ihm den Takt zum gemeinsam gesungenen Lied angeben. Beim Fahrtheater muss halt alles praktisch sein.
Ich spreche von der Zwingli Roadshow, der neuen Produktion vom Theater Kanton Zürich, erdacht von der Autorin Brigitte Helbling und in Szene gesetzt vom Regisseur Niklaus Helbling.
Für ihn ist das Stück ein Re-Enactment der Urgemeinde. „Der Meister ist tot, wir sind nun alleine und müssen die Botschaft weiter tragen“ wird er im Programmheft zitiert.
„Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele“ heisst es in der Apostelgeschichte über die Urgemeinde, um sich gleich mit der nächsten Geschichte selber ins Wort zu fallen und von zweien zu erzählen, deren Herzen und Seelen nicht einig, sondern geteilt waren. Das gilt auch fürs Fahrtheater. Einig sind sie sich in ihrer überbordenden Spiellaune. Uneinheitlich und öfters mal geteilt, was den ganzen Rest betrifft.
Doch Dorette scheint das nicht zu stören. Es sind ihre Leute, sie sind nun mal da und also gehören sie dazu. Die Idee der Reformation ist für alle da. Oder andersherum: Alle sind auf ihre Weise Teil dieser Idee. Sie strahlt aus ihnen heraus, je auf ihre eigene Art.
„Jeder trägt zum Sagen und Versagen des Ganzen bei“ – sagt sie einmal. Anders ist die Reformation nicht zu haben.
Nicht immer halten sich die Darsteller ans Skript. Einmal geraten alle ins gleiche Fahrwasser. Keine Ahnung, wie das gekommen ist. Plötzlich hacken alle auf Zwingli herum. Und genauso plötzlich verstummen sie wieder. Etwas stimmt nicht; aber was? Dorette sagt nichts mehr. Sie hat sich abgewendet und ausgeklinkt. Das beunruhigt die anderen. Was ist los?
Sie ist traurig, weil sie in Zwingli bei aller Kritik noch etwas anderes sieht. In immer neuen Anläufen und mit immer neuen Bildern versucht sie, es den anderen zu erklären. Es ist nicht einfach das, was sich im Inneren aus Gedanken, Erfahrungen, Bildern und Gefühlen geformt hat, in Worte zu fassen. Nie scheinen sie ihr wirklich treffend, und doch versteht man: Der Zwingli hat ihr ins Herz gefasst. Durch ihn ist sie auf etwas gestossen, das grösser ist als sie und das sie über sich hinauswachsen liess. Davon will sie nicht ablassen.
Die anderen lenken ein. Dorette ohne ihren ansteckenden Elan – das wollen sie dann doch nicht. Sie brauchen ihn nämlich, um selber dynamisch zu bleiben.
Denn dynamisch geht es hier zu. Nicht nur beim Spielen und Singen, Tanzen und Disputieren, sondern auch zwischen den Darstellern und in ihnen.
Obwohl sie sich dauernd ins Wort fallen und darüber diskutieren, was sie eigentlich spielen wollen, führen sie doch ihr Stück auf und berichten von skurrilen Geschichten ihrer Zeit.
Sie erzählen von einem, der Opfer einer krassen Bestrafungsaktion wird: Durchs Haus laufen, heisst das. Als er nach Hause kommt, haben junge Dorfbewohner alle seine Vorräte an Ort und Stelle aufgegessen. Es ist Herbst.
Oder von dem, der von den Altgläubigen entführt, ins katholische Gebiet gebracht und dort angeklagt wird. Noch auf der Fahrt möchte er widerrufen. Zu spät. Auf dem Scheiterhaufen will er nicht mehr widerrufen.
Doch wem erzählen sie diese Geschichten eigentlich? Irgendwann wird den Leuten vom Fahrtheater klar, dass sie die Geschichten ihrer Zeit für eine andere Zeit erzählen. Was ist das für eine Zeit? Um das zu klären, werden wir, die Zuschauer von den Darstellern beäugt: Was die gehen nicht mehr in die Kirche? Was da glauben nur noch wenige an Gott?
Das Publikum wird zur Bühne. Jetzt sind wir dran mit dem Theater: Welche Rolle ich da wohl spiele? Oder Sie?
Übrigens: Man kann die Zwingli Roadshow buchen oder dort anschauen, wo sie schon gebucht wurde. Ein Fahrtheater eben. Sehr zu empfehlen!
Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche. Blog abonnieren Alle Beiträge ansehen
Barbara Oberholzer
Gepostet um 08:50 Uhr, 11. OktoberHervorragend geschrieben, dieser Beitrag! Einfach ein sprachlicher Genuss, ihn zu lesen ??.
Anonymous
Gepostet um 10:35 Uhr, 15. OktoberLiebe Barbara
Danke für die Blumen! Freut mich sehr, dass Dir mein Beitrag gefallen hat!
michael vogt
Gepostet um 15:00 Uhr, 11. Oktoberwenn zwingli theologisch nichts gescheiteres zu sagen wusste, kann ich verstehen, dass luther verruckt worden ist über ihn
Anita Ochsner
Gepostet um 17:36 Uhr, 11. OktoberDer Beitrag macht an das Stück zu schauen! Oder noch besser zu buchen.
Diese Antwort finde ich lustig! Bringt mich zu lachen 🙂 . Was Zwingli theologisch sagte.. Luther wurde auch verruckt über Erasmus. Nun aber was mich doch sehr wundernähme, was haben denn Zwingli und Erasmus miteinander gesprochen? Anfangs Freund, dann kam es auch zwischen ihnen zum Bruch. Was die miteinander diskutiert haben? das fände ich spannend auch davon mehr zu erfahren!
Thomas Grossenbacher
Gepostet um 07:35 Uhr, 12. OktoberChapeau. Bei dieser Rezension … Was muss das erst für ein Stück sein!
So optisch und dreidimensional packend kann Sprache sein. Deine ist es. Danke.
Anonymous
Gepostet um 10:37 Uhr, 15. OktoberLieber Thomas
Danke für Dein schönes Feedback. Schau Dir das Stück an, es wird Dir gefallen!