Was Menschen glauben
Wir bezeichnen unsere Welt gerne als moderne Welt. Dieses Selbstverständnis gilt vor allem für die sogenannte westliche, aufgeklärte Welt und dies nun schon seit Jahrhunderten. Es wird wissenschaftlich immer wieder neu erläutert, es wird als Teil des schulischen Grundwissens gelehrt, medial rituell vertreten und es findet als Teil des gesunden Menschenverstandes seinen unverrückbaren Platz in unseren Gesellschaften und unseren Köpfen.
Ein besonderes Merkmal dieser modernen Welt ist die allgegenwärtige Unsicherheit. Auch hierüber herrscht breite Einigkeit, die von wissenschaftlicher Reflexion bis zu dumpfem Alltagsempfinden reicht. Eine Unsicherheit, die im wahrsten Sinne des Wortes jede und jeden, ja sogar jedes, betrifft. Es ist eine Unsicherheit, die vermehrt auch die Vergangenheit erfasst und die Gegenwart umtreibt. Natürlich betrifft sie vor allem die Zukunft. Dies betrübt besonders, weil die meisten von uns in dieser zu leben gedenken (frei nach Albert Einstein).
Mit einem Kniff lässt sich dieser auf den ersten Blick betrüblichen Diagnose eine positive Wendung geben. Man könnte annehmen, dass diese grenzenlose Verunsicherung zur Blockade führt. Wie sollten in einem solchen Umfeld – total unklar, vollständig unsicher, komplett undurchschaubar, und in jedem Fall in keiner Weise vorhersehbar – vernünftige Entscheidungen gefällt werden können? Individuell als Bürgerin oder Konsument, in sozialen Gruppen, in Parteien oder Unternehmen, oder als gesellschaftliche Einheiten, als Städte, Kantone oder Nationen?
Mit «Kniff» soll hier natürlich nicht auf «Falte, Knick, Kante oder Bruch» (als gängige Synonyme) verwiesen werden. Schon eher auf «Kunstgriff, Winkelzug, Schachzug, Finesse, Raffinesse, List, Manöver, Manipulation, Handgriff oder Finte» (weitere Synonyme). Eigentlich geht es um «Methoden, Verfahren, Vorgehensweisen, Arbeitsweisen und Verfahrenstechniken» (ebenfalls Synonyme).
Diese Praktiken beherrschen unsere Welt. Am auffallendsten geschieht dies in der vermarkteten Welt. Diese reicht von Zigaretten bis zu Präsidenten. Und der Kniff «geht so»: Die Unsicherheit, insbesondere jene fundamentale Unsicherheit über die Zukunft, in der wir zu leben gedenken, wird im ersten Schritt als prekäre Situation dargestellt: als persönliche oder soziale «Krise», am effektvollsten als (nationaler) «Notstand». Im nächsten Schritt wird diese prekäre Situation umgehend in eine Chance umgedeutet: als «Wahl», am weitreichendsten als «Freiheit». Vor dem Regal im Supermarkt ebenso wie an der Wahlurne. Damit diese Optionsvielfalt nicht zur «Qual der Wahl» wird, muss schnellstens eine wählbare Zukunft gefunden, konkret: erfunden, werden. Diese konstruierte Zukunft kann einen Produktnutzen betreffen: dann wird Tabakkonsum nicht als schleichender Selbstmord angegriffen, sondern wird verbunden mit der Hoffnung auf grenzenlose individuelle Freiheit. Oder die Zukunftsimagination (der Begriff des Soziologen Jens Beckert) kann Weltgeschichte betreffen: «make America great again».
Die Praktiken nehmen durchaus unterschiedliche Formen an. Als ausgereifte Prognosetechniken verleihen sie Budgetplanungen in Unternehmen oder Vorhersagen für Volkswirtschaften unangreifbare Seriosität. Dank modernster Marketingtechniken wissen wir, welche Zahnpasta Karies auch in Jahrzehnten verhindert oder welche Lebensversicherung unser Ableben für unsere Angehörigen zumindest finanziell zum Glücksfall machen wird.
Trotz ihrer Unterschiedlichkeit haben diese modernen Sozialtechniken einiges gemeinsam. Vor allem haben sie keine wirkliche Ahnung von dem, was sie versprechen: spezifische zukünftige Entwicklungen. Sie sorgen nicht dafür, dass Unsicherheit verschwindet. Sie sorgen lediglich dafür, dass wir diese zu beherrschen – und jetzt kommt der entscheidende Begriff – glauben.
Meist glauben wir den modernen Sozialtechniken, weil sie so «ordentlich daherkommen». Gestützt von Expertenmeinungen, mit transparenten Arbeitsschritten und klar und detailliert dokumentierten Resultaten. Ein Excel-Sheet vertreibt jeden Zweifel. Wir trauen dem Verfahren. Das sichert ein besonders hohes Mass an Legitimation. Es wurde ja etwas (vermeintlich) richtig gemacht.
Ganz selten glauben wir den vorhersagten Ergebnissen der Zukunftsimaginationen. Denn hin und wieder hören wir dann doch, dass ein guter Freund als Kettenraucher an Lungenkrebs gestorben ist. Oder dass Mauern menschliche Mobilität im Notfall nicht verhindern. Gesellschaftlich legitim ist dieser machtvolle Zynismus allemal. Schliesslich wurde etwas (vermeintlich) Richtiges gemacht.
Im Extremfall basiert unser Glaube allein auf dem gemachten Versprechen. Legitimität, die auf der formulierten Verheissung basiert (Jens Beckert nennt dies «promissory legitimacy»). Menschen werden von Absichten auch dann bewegt, wenn die angekündigten Wirkungen gar nicht eintreten. Das Verabreichen von politischen Placebos schafft gesellschaftliche Legitimation. Der Glaube an das Versprechen sorgt für Macht. Die USA mögen nie mehr Nummer Eins werden. Das entsprechende Versprechen hat jedoch schon dafür gesorgt, dass sein Autor die Nummer Eins geworden ist. Offensichtlich wurde das (vermeintlich) richtige Versprechen gemacht.
Aus Sicht der «Betroffenen» – als Bürger oder als Konsumentinnen – lassen sich die drei Prozesse der Beschaffung von Legitimation in Analogie zum Tunnel so fassen: Erstere rennen in den Tunnel, weil sie am anderen Ende das Licht sehen. Die zweite Gruppe stürmt in den Tunnel, obwohl sie weiss, dass das Licht am Ende des Tunnels auch der entgegenkommende Zug sein kann. Und dann gibt es offensichtlich viele Menschen – genug um schädlichen Massenkonsum zu ermöglichen oder menschenverachtende Politiker an die Macht zu wählen – die beim Sturm in den Tunnel nur vom Glauben getrieben sind, dass es überhaupt ein anderes Tunnelende gibt.
Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche. Blog abonnieren Alle Beiträge ansehen
Barbara Oberholzer
Gepostet um 08:40 Uhr, 05. AprilGuten Morgen!
Wenn ich die dritte Gruppe kontextfrei auf mich wirken lasse, dann denke ich: OSTERN! Glaube, Liebe, Hoffnung. Ich denke an alles, was bei uns Menschen intrinsisch ist, Motive, Überzeugungen, Gerechtigkeitsempfinden, Emotionen. Aber vielleicht sind wir religiös Gläubigen ja die grössten VollidiotInnen überhaupt?
Alpöhi
Gepostet um 13:51 Uhr, 05. AprilDas hat Paulus auch gesagt: (frei zitiert) „Wenn Christus nicht auferstanden ist, sind wir alles Idioten“
Es hängt also an der Auferstehung.
Oder allgemeiner: Es hängt daran, wem die Christen ihren Glauben schenken: ihren heiligen Schriften, oder etwas anderem?
Das ist kein Plädoyer „Glauben wider die Vernunft“. Es ist ein Plädoyer, die verschiedenen Welterklärungsmythen kritisch auf ihre Glaubwürdigkeit zu hinterfragen:
• Kapitalismus: „Wenn des den Fabrikanten gut geht, geht es allen gut“
• Kommunismus: „Wenn es allen gleich geht, geht es allen gut“
• Christentum: „Alles Leben ist Beziehung“ (Beziehung zu Gott und den Menschen – und den Mitgeschöpfen)
oder in naturwissenschaftlichen Kategorien:
• Darwinismus: „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Resultat des Zufalls“
• Christentum: „Alles ist von Gott geschaffen. Fürchtet euch nicht!“
=> Die Frage aller Fragen ist dann: Welche Konzepte sind glaubwürdig? Aufgrund von was sind sie glaubwürdig?
Alpöhi
Gepostet um 13:52 Uhr, 05. AprilDenkverbote sind dabei hinderlich. Sowohl auf kirchlicher als auch auf nicht-kirchlicher Seite.
michael vogt
Gepostet um 08:56 Uhr, 05. Aprilman könnte also sagen, die biblischen schriftsteller haben den kniff begriffen: da gibt es eine verheissung, dass bis zuletzt alles vollkommen sein wird, die den glauben – vertrauen und erkenntnis – begründet, in dem wir gerecht handeln können, aus dem die hoffnung geboren wird, in der wir das möglichste tun, das mögliche, unabgelenkt vom versuch, das unmögliche zu erreichen, aber doch das, was oft unmöglich erscheint. nur ist die frage: ist das ein kniff? ich glaube eher, es ist der griff auf der gitarre, der überzeugenden klang. der glaube wird zum schauen. aufgrund dessen, was sich – wie immer – offenbart, fallen wir nicht auf falsche versprechen herein. oder ist es das, was Sie implizit sagen wollten, und ist meine explikation zu trivial? eigentlich bin ich ja daran, nach zehn jahren mit kommentieren aufzuhören, weiss aber noch nicht recht, ob ich’s glauben soll? 😉